Donnerstag, März 21, 2024
Diary

Das stille Inselparadies der Gleichstellung

Dieser Beitrag wird uns von Lisa Rohrer präsentiert.
Karte von Charles Blaskowitz (1775 / Libary of Congress)
Karte von Charles Blaskowitz (1775 / Libary of Congress)

Martha’s Vineyard ist eine kleine Insel vor der Neuenglischen Küste, wo heutzutage hauptsächlich die Kennedys und Obamas gediegen urlauben. Sie befindet sich etwas südlich von Cape Cod, wo im Jahre 1620 eisige Winterwinde die Mayflower an die sandige Küste spülten. In den folgenden Jahren gründeten diese PilgerväterInnen dort die Massachusetts Bay Colony und legten den Grundstein für eine puritanische Besiedelung der „Neuen Welt“. Wenn wir aber mal kurz deren religiösen Eifer und zweifelhafte Landnahmepolitik links liegen lassen, stoßen wir auf folgende sympathische Fußnote:

Unter den unzähligen Engländern, die in den nächsten Jahrzehnten Neuengland erreichen würden, stammten auch einige aus den kentischen Weald (= Wald, alles klar?). Einer davon war Jonathan Lambert, der 1694 die Insel Martha’s Vineyard erreichte und der erste dokumentierte gehörlose Siedler der Insel war. Laut seinem Testament waren zwei seiner sieben Kinder ebenfalls gehörlos. Auch andere Familien aus dem Weald hatten gehörlose Mitglieder und so folgte Generation auf Generation während der Anteil an von Geburt an Gehörlosen in der Bevölkerung stetig zunahm. Während im späten 19. Jahrhundert der Anteil an Gehörlosen in der Amerikanischen Festlandbevölkerung bei etwa 1:6000 lag, war in der Gemeinde Chilmark auf Martha’s Vineyard einer von 25 gehörlos.

Eleanor Roosevelt and Helen Keller in Marthas Vineyard (wikimedia commons)
Eleanor Roosevelt and Helen Keller in Marthas Vineyard (wikimedia commons)

Die Anthropologin Nora Ellen Groce veröffentlichte in den achtziger Jahren eine Studie über die gehörlose Bevölkerung der Insel, im Rahmen derer sie intensive Ahnenforschung betrieb. Sie stellte fest, dass alle Familien mit gehörlosen Mitgliedern auf Lambert und andere Engländer aus dem Weald zurückgeführt werden konnten. Es handelte sich anscheinend um ein rezessives Gen, das durch jahrzehntelange Inzucht weitervererbt wurde. Die Puritaner hatten zwar ziemlich strenge Gesetze was Inzucht betraf, die bezogen sich in der Regel aber nur auf Verwandte ersten und zweiten Grades. Und hey – auf einer kleinen Insel darf man nicht wählerisch sein.

Der enorm hohe Anteil an Gehörlosen in der Bevölkerung führte dazu, dass die hörende Bevölkerung der Insel in der Regel zweisprachig war – sie sprachen Englisch (in einem für andere Neuengländer scheinbar sehr „interessanten“ Dialekt) sowie Gebärdensprache. Tatsächlich benutzten oft Hörende Gebärdensprache um sich quasi „flüsternd“ zu unterhalten. Neuankömmlinge mussten Gebärden lernen, um sich in die Gesellschaft auf der Insel integrieren zu können und Gehörlosigkeit wurde von den Bewohnern nie als Behinderung wahrgenommen.

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Kinder beim Lernen der Martha’s Vineyard Sign Language (via top10.raag.fm)
Kinder beim Lernen der Martha’s Vineyard Sign Language (via top10.raag.fm)

Die auf der Insel benutzte Sprache, die Martha’s Vineyard Sign Language (MVSL), konnte sich durch die relative Isolation viele ihrer Eigenheiten bewahren. Als man jedoch auf dem Festland begann, Schulen für Gehörlose zu errichten, kam es verstärkt zur Abwanderung der gehörlosen Bevölkerung. Einige davon besuchten die 1817 gegründete „American School for the Deaf“ und nahmen Einfluss auf die dort begründete American Sign Language (ASL) – heute die offizielle Amerikanische Gebärdensprache. Die letzte Sprecherin der Martha’s Vineyard Sign Language, Katie West, starb 1952 und mit ihr die Sprache. Die gehörlose Community hatte aber bereits ihre unverwischbaren Spuren in den Neuenglischen Sand getreten und Jonathan hat noch immer seine „Lambert’s Cove“ am Vineyard Sound (da gibt’s auch einen schönen Strand).

Man stelle sich das vor: Eine Gesellschaft, in der Gehörlosigkeit nicht bedeutet, durch Kommunikationsbarrieren vom gemeinschaftlichen Leben ausgeschlossen zu sein, sondern mitten drin in der Community zu sein, ohne Stigmatisierung oder sogenanntes Mitleid.

Ich hab heute mal Bitte und Danke in Österreichischer Gebärdensprache gelernt.

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