„Das Leiden am sinnlosen Leben“ ist der Titel eines Buches des österreichischen Begründers der Logotherapie Viktor Frankl. Lange Zeit habe ich nur den Titel gekannt und faszinierend gefunden, vor allem in meiner Jugend, in der ich mich selbst viel geplagt habe mit Weltschmerz, dem alleine sein, dem Nicht-Wissen, wieso man da ist. Damals habe ich mir damit beholfen, mich abzulenken, viel Zeit mit Freunden zu verbringen und einfach zu versuchen nicht daran zu denken, dass mich irgendwo ein ungutes Gefühl beschleicht.
Vor ein paar Jahren habe ich mich dann über das Buch gewagt und habe es, wie man so schön sagt, gefressen. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich schon selbstbewusst sagen: „Ja, das Leben hat keinen Sinn. Aber: Na und? Wenn’s keinen Sinn gibt, dann gibt’s auch keinen Unsinn.“ Bis heute glaube ich daran, dass man zwar aus vielen verschiedenen Wissenssystemen einen theoretischen Sinn ableiten kann, doch der Sinn des eigenen Lebens nur „im Fluss“ gefunden werden kann. Denn gegen ein ungutes Gefühl hilft es wenig zu wissen, dass es biologisch Sinn macht, sich zu reproduzieren, dass es theologisch Sinn macht, an eine höhere Macht zu glauben und dieser zu dienen, oder sich Autoritätspersonen aller Art zu unterwerfen, um Sinn aus der möglichen Anerkennung zu schöpfen.
Ein wenig buddhistisch anmutend, ist für Frankl das Leiden am Leben ein normaler, gesellschaftlicher Umstand und keine Krankheit. Das oft gefühlte, existentielle Vakuum kommt seiner Meinung nach hauptsächlich daher, dass wir Menschen weder, wie die Tiere, durch Instinkte angeleitet werden, noch an Traditionen gebunden sind, die uns sagen, was wir tun sollen. Nur wenige Menschen können es ertragen mit dieser Freiheit zu leben, und für viele liegt die Flucht davor im Missbrauch von Alkohol oder Drogen bzw. in der Aggression gegen sich selbst oder andere.
Was kann also getan werden? Eine der Grundaussagen bei Frankl ist, dass auch der Therapeut dem leidenden Menschen keinen Sinn geben kann. Sinn kann, aber muss nicht, von jedem Menschen selbst gefunden werden – es ist der „Wille zum Sinn“, der zählt. Denn das Leben hält zu jeder Zeit, in jeder Situation, Sinnmöglichkeiten für jeden bereit. Wenn Menschen Verantwortung für ihr Handeln übernehmen, können sie ihrem persönlichen Sinn in jedem Moment näher kommen. Das bedeutet, selektiv zu sein, Entscheidungen zu treffen darüber, was wesentlich ist und was nicht, was verantwortbar ist und was nicht, was Sinn macht und was nicht. Gerade in unserer heutigen, schnellen und reizüberflutenden Zeit gibt es somit keine Situation, die keine Aufgabe oder keinen Sinn bereithält.
Für Frankl halten nicht nur die Momente Sinn bereit, in denen wir Schaffen, Erleben, Begegnen und Lieben, sondern auch die in denen wir leiden. Wo keine Handlung mehr möglich ist, dort ist es nötig, dem Schicksal mit der rechten Haltung zu begegnen. Das Leiden stellt uns vor die Aufgabe, an unserer Einstellung zu arbeiten. Entscheidend ist nicht, warum wir leiden, sondern wie wir leiden, denn das entscheidet über die letztendlich möglichen Pole unseres Gemütszustands: Verzweiflung oder Erfüllung.
Frankls Ansatz appelliert im Grunde an die Würde und Mündigkeit des Menschen. Wenn er schreibt, dass jede Zeit ihre eigene Psychotherapie braucht, so meint er damit, dass sich die mentale Verfassung der Menschen zum größten Teil aus dem Wechselspiel mit dem gesellschaftlichen Umfeld ergibt. Viktor Frankl ist 1997 verschieden und seine Ansichten scheinen sich mehr denn je zu bestätigen. Laut dem Berufsverband österreichischer Psychologen leiden immer mehr Menschen unter psychischen Erkrankungen. Doch das heißt nur bedingt, dass viele Menschen krank sind. An sich selbst zu arbeiten ist keine Krankheit, doch es braucht Zeit, Raum und Muße. Und davon haben wir, subjektiv oder objektiv, oft zu wenig.