Gegen den modernen Fußball zu sein ist gerade ziemlich modern. Nicht wenige Fans denken wehmütig an eine Zeit zurück, als es in den Stadien noch nach Bier, Schweiß und manchmal Tränen roch, anstatt nach Turbokapitalismus, unanständigen Ablösesummen und VIP-Büffets. Als Fußballspiele noch Ereignisse waren und keine Events. Und Stadien noch Stadien und keine Arenen. Als die Vereine von örtlichen Betrieben finanziert wurden anstatt von Superreichen oder Schurkenstaaten. Kurz: Als der Fußball zwar nicht besser, aber dafür gefühlt ehrlicher war.
In Graz hat sich der GAK seit seiner Neugründung vor einigen Jahren das Motto „Fußball wie früher“ auf die Fahnen geheftet. International bedienen Vereine wie der FC United of Manchester diese nostalgische Sehnsucht. Aber im Vergleich zu den Corinthians aus England sind das alles Amateure. Die waren nämlich schon gegen den modernen Fußball, als es den noch gar nicht gab.
Der Corinthian Football Club wurden 1882 als Kaderschmiede für die englische Nationalmannschaft gegründet, damit die endlich mal die Schotten schlagen konnte. Vor allem aber verstand man sich von Anfang an als Verkörperung der Ideale von Sportsgeist und Fair Play. Das berühmte Bonmot, wonach Fußball ein Sport für Gentlemen sei, der von Rowdys gespielt wird, trifft zumindest auf die Corinthians nicht zu. Die waren Gentlemen durch und durch. So verschossen sie etwa absichtlich ihre Elfmeter, weil sie der Meinung waren, dass ein Gentleman niemals absichtlich einen anderen foulen würde und Strafstöße daher per se ungerecht seien. Und wenn ein Gegner verletzt vom Platz musste, ging ein Korinther gleich hinterher, denn Gentlemen spielen selbstverständlich nicht gegen einen zahlenmäßig unterlegenen Gegner. Trotz dieses extremen Sportsgeists, der wohl schon damals nur von den wenigsten anderen Kickern geteilt wurde, waren die Corinthians Anfang des 20. Jahrhunderts aber nicht nur das kultivierteste, sondern wohl auch eines der besten Teams der Welt und schossen etwa 1904 Manchester United mit 11:3 aus dem Stadion – die bis heute höchste Niederlage, die die ruhmreichen Red Devils je kassiert haben.
Aber nicht nur bei Strafstößen widersetzten sich die Corinthians den Entwicklungen des modernen Fußballs (in der Version des ausgehenden 19. Jahrhunderts), sondern vor allem in ihrem kompromisslosen Amateurismus, der dem ehemaligen IOC-Präsidenten und Karl-Schranz-Ausschließer Avery Brundage wohl Tränen der Rührung in die Augen getrieben hätte. Bei den Corinthians galt: Wer nicht der reinen Liebe zum Spiel wegen gegen den Ball trat, brauchte erst gar nicht anzutreten. Das ist übrigens bis heute so. Das Höchste, was die Kicker des Nachfolgevereins Corinthian-Casuals als Entlohnung für ihr Engagement erwarten dürfen, ist eine Gratislimo nach dem Spiel.
Ihr strikter Amateurismus bedeutete auch, dass die Corinthians sich weigerten, an professionellen Wettbewerben teilzunehmen und lediglich Freundschaftsspiele absolvierten. Und weil sie sich Anfang des 20. Jahrhunderts im Streit zwischen Profis und Amateuren auf Seiten Letzterer stellten und in ihrer englischen Heimat daraufhin keine Spiele gegen Profiklubs mehr austragen durften, wurden sie so etwas wie die Harlem Globetrotters des Fußballs. Zwischen 1897 und 1928 unternahmen die Corinthians Tourneen auf vier Kontinenten und brachten den ungewaschenen Massen jenseits der britischen Insel das schöne Spiel näher – unter anderem auch zweimal in Wien. Sie hinterließen ihre Fußabdrücke im Weltfußball: So sind etwa die weißen Trikots von Real Madrid eine Hommage an die der Korinther und der erste nationale Fußballpokal in Schweden war die „Corinthian Bowl“.
Am meisten Eindruck haben die Gentleman-Kicker aber in Brasilien hinterlassen, wo der bekannte Verein Corinthians São Paulo, bei dem u. a. die brasilianischen Legenden Socrates, Roberto Carlos und Ronaldo kickten, nach ihnen benannt ist, und wo die Corinthian-Casuals bis heute ihre treuesten Fans haben. Während sich von den Einheimischen mit viel Glück gerade mal ein paar hundert Unentwegte zu ihren Spielen in der siebten Liga verirren, reisen immer wieder begeisterte Fans aus Brasilien um die halbe Welt, um die Corinthian-Casuals live zu sehen. Und das, wo sie im eigenen Land vermutlich nur zweimal umfallen müssten, um einen wesentlich besseren Kick zu sehen.
Aber das ist noch nicht alles: Als die brasilianischen Corinthians 2015 ihr neues Stadion eröffneten, ließen sie ihre Fans abstimmen, welchen prominenten Gegner sie zum Eröffnungsspiel einfliegen lassen sollten: Zur Auswahl standen die Weltklubs Real, Barca und Chelsea und die siebtklassigen Corinthian-Casuals. Dreimal dürft ihr raten, wer gewonnen hat. Und so kickten Studenten, Polizisten und Lagerarbeiter auf einmal vor 30.000 Fans gegen einen der größten Vereine Südamerikas und wurden dabei gefeiert wie Helden.
Die Geschichte der Corinthian-Casuals ist eine der schönsten, die ich seit Langem über meinen Lieblingssport gelesen habe. Und wenn ich mal wieder nach England komme, werde ich nur zu gerne bei den Corinthian-Casuals vorbeischauen. Selbst wenn sie auf einem Rübenacker auf Landesliganiveau kicken, reizt mich das wesentlich mehr als die aufgeblasene Premier League.
Aber man muss nicht unbedingt nach England fahren, um den Fußball zu erleben, in den wir uns damals verliebt haben. Um sich wieder als Fan fühlen zu können statt als Konsument. Daher als Schlusspfiff für diesen Beitrag mein Appell: Lasst Sky, DAZN und wie sie alle heißen am Wochenende mal ausgeschaltet und schaut stattdessen auf dem nächsten Kickplatz bei euch im Ort vorbei. Nehmt euch ein paar Freunde mit und ein Beispiel an den Corinthians und verfolgt (oder betreibt) das schöne Spiel mit Leidenschaft, Fairness und heiterer Gelassenheit. Und ihr werdet wieder am eigenen Leib spüren, warum Fußball der geilste Sport der Welt ist.
Hinweis: Ich bin durch einen Artikel aus 11Freunde Nr. 205 vom Dezember 2018 auf die Corinthian-Casuals und ihre Brasilien-Connection aufmerksam geworden. Das Magazin für Fußballkultur gibts u. a. in der Grazer Stadtbibliothek oder zum Nachbestellen auf 11freunde.de.
Außerdem läuft derzeit eine Spendenkampagne der Corinthian-Casuals, um den historischen Corinthian Cup in Budapest im Juni wiederaufleben zu lassen. Zu finden auf gofundme.com.