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I am Snailing

Über extreme Schnecken und Morgenspaziergänge

Schnecke auf Blatt sitzend

Neulich habe ich beim Morgenspaziergang diese Schnecke hoch oben in einer Hecke abhängend mützeln gesehen und mich gefragt: WTF? Ich weiß schon, Schnecken haben ein Talent, an die unmöglichsten Orte zu gelangen. Besonders gelbe Hauswände scheinen es ihnen aus irgendeinem Grund angetan zu haben. Aber die hier zeichnet sich besonders aus, weil sie sich nicht nur hoch hinauf, sondern auch noch auf ein dünnes Blatt raus gewagt hat. Wie an einen Überhang geklammerte Extrembergsteiger spuckt sie dort der Schwerkraft ins Gesicht. Extreme Snailing quasi.

Als die Gute dann mal aufgewacht ist, wird sie sich vermutlich dieselben Fragen gestellt haben, die uns allen ab und zu samstagmorgens durch den Kopf gehen: Wo bin ich? Wie bin ich hierher gekommen? Und warum hab ich gestern nach dem fünften Bier nicht einfach aufgehört?

Davon abgesehen will ich diese wagemutige oder einfach nur verwirrt-verirrte Schnecke als Aufhänger nutzen, um ein Plädoyer für den Morgenspaziergang zu halten. Einerseits, weil er den Geist wunderbar anregt. Wer ohnehin körperliche Arbeit verrichtet oder mit dem Rad ins Büro fährt, kommt wahrscheinlich auch ohne morgendliche Runde in Schwung, aber wer sich in der Früh normalerweise nur in Auto oder Bim setzt oder wie ich vom Bett quasi volley an den Schreibtisch wuchtet, wird verblüfft feststellen, wie sehr selbst ein kurzer Spaziergang das Denken in Schwung bringt. Eigentlich ist das aber alles andere als verblüffend. Schließlich haben wir uns als Spezies nicht zu den Gehirnakrobaten entwickelt, die wir heute sind, indem wir in einer Höhle am Schreibtisch gesessen sind, sondern indem wir wie die Äffchen durch die Savanne gehirscht sind.

Und andererseits ist so eine Morgenrunde die ideale Übung, um den Blick zu schärfen. Es ist unglaublich, was man selbst auf einem Weg, den man schon hundert Mal gegangen ist, jeden Tag Neues sehen kann, wenn man richtig hinschaut. Das richtige Hinschauen ist leider etwas, das die meisten von uns gefühlt zur selben Zeit verlernen, zu der wir uns andere Skills wie Fahrrad fahren, schwimmen oder rauchen aneignen – gerade so, als würde für alles Neue, das wir lernen, etwas Altes rausfallen, wie im Kopf von Kelly Bundy. Und dann müssen wir in unserer erwachsenen Hektomatikwelt das genaue und bewusste Hinschauen erst mühsam wieder lernen, sei es durch Meditation oder eben durch bewusstes Spazierengehen – die gelebte Entschleunigung in einer Welt der Automobile, Flugzeuge und Atomraketen. Quasi die moderne menschliche Variante des Extreme Snailing. Besonders beglückend ist das, wenn rundherum alles grünt und blüht, aber selbst im dichten Großstadtdschungel gibt es immer wieder was Neues zu sehen, wie schon Auggie Wren im superben Smoke bewiesen hat, der jahrzehntelang jeden Tag um dieselbe Zeit den Eingang seines Tabakladens fotografiert hat und zu jedem Foto eine Geschichte erzählen konnte. Weil das Leben eben nie stillsteht. Das kommt höchstens uns so vor, wenn wir es tun.

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