Teil 9: Der Frisör meines Vertrauens
13.09.2000
Nach einem ausgiebigen Frühstück in einem netten, kleinen Straßencafé suchen wir uns eine Rikscha für die Fahrt zum Bahnhof. Um einen Rikschafahrer zu finden, der uns zu einem für uns halbwegs akzeptablen Preis zum Bahnhof bringen möchte, bedarf es einiger Versuche, Diskussionen, Missverständnisse und sogar Streitereien sowie einer Wanderung um einige Häuserblocks. Schließlich können wir uns verschwitzt und ziemlich genervt mit einem Fahrer einigen, zwängen uns mitsamt unserer Tramperrucksäcke in sein Gefährt – die zwei Rucksäcke und einer von uns auf der Rücksitzbank der andere vorne neben dem Fahrer auf dessen Sitz, so geht das ganz gut, haben wir bereits herausgefunden – und lassen uns zum Bahnhof bringen. Zwanzig Minuten vor Abfahrt unseres Zuges kommen wir an. Gerade richtig, um sich noch zu orientieren und vielleicht einen Chai zu trinken. Der Bahnhof ist sofort als britisches Bauwerk erkennbar. Langgestreckt und ziegelrot, von einem viereckigen Uhrturm überragt, steht er auf einem Platz mitten im Zentrum der Stadt. Davor herrscht das übliche Chaos das in diesem Fall jedoch auch nach Betreten des Gebäudes kein Ende nimmt. Die riesige Bahnhofshalle ist überfüllt mit Menschen. Sie sitzen auf Sitzmöbeln, stehen an Essensbuden oder vor Fahrkartenschaltern oder lungern einfach am Boden zwischen allen möglichen und unmöglichen Gepäckstücken herum. Irgendwie scheinen es die, die die Halle durchqueren müssen, dies trotzdem zu schaffen, ohne jemanden über den Haufen zu rennen oder zusammen zu treten.
Hans und ich gelangen zu einer Anzeigetafel, finden unseren Zug und – bekommen einen Schock. Der Bhubaneswar Superfast Express dürfte heute wohl doch nicht so superschnell unterwegs sein, er hat nämlich “derzeit“, wie uns von der Tafel hoffnungsvoll in großen, roten Lettern verkündet wird, 4 Stunden Verspätung. Na super! Wir werden dieser Stadt also doch nicht so schnell wie erhofft entfliehen können. Was also tun? Nach kurzer Beratung beschließen Hans und ich, unser Gepäck irgendwo zu lagern und halt doch noch einmal durch die Stadt zu streifen, bevor wir vier Stunden hier herumsitzen. Einmal mit unseren Rucksäcken quer durch die Halle gekämpft finden wir den “Cloak Room“, wo wir für ein paar Rupien unsere Rucksäcke lagern können.
Wir verlassen den Bahnhof und trinken zunächst einmal einen Chai beim Chaiwallah vor dem Eingang. Nicht die beste Idee, wie wir sogleich bemerken, denn sofort umringen uns unzählige Rickscha- und Taxifahrer, die uns alle unbedingt irgendwohin bringen wollen. Wir leeren den Chai also so schnell wie möglich und machen uns zu Fuss auf den Weg, zunächst einfach einmal weg vom Bahnhofsvorplatz, um den aufdringlichen Fahrern zu entkommen. Schnell finden wir uns im engen und unüberschaubaren Gassengewirr in der Nähe des Bahnhofs wieder. Wir schlendern ein wenig herum, froh, hier in den belebten Gassen nicht sofort im Mittelpunkt zu stehen, sondern einfach einmal in Ruhe flanieren zu können. Wir besichtigen eine kleine, unspektakuläre christliche Kirche, und kaufen uns beide ein Stück Wassermelone, auf das uns der Straßenhändler Salz und Chilipulver streut. Zunächst etwas verwirrt ob der ungewohnten Mischung, finde ich jedoch schnell Gefallen daran, da es in der schwülen, stehenden Hitze tatsächlich herrlich erfrischend schmeckt. Kurz darauf kommen wir an einem winzigen Frisörladen vorbei, der uns nur auffällt, weil ein kleiner Inder mit akkurat gescheiteltem, frisch gegelten Haar, der den Laden eilig verlässt, fast in uns hinein rennt. Er blickt kurz auf, schaut uns verdutzt an, murmelt irgendetwas Unverständliches, was wie eine Entschuldigung klingen könnte, und verschwindet in der Menge. Mir kommt spontan eine Idee, die ich Hans mitteile: “He, wir sind jetzt eineinhalb Wochen hier, irgendwie wird es an der Zeit, sich an die örtlichen Gebräuche anzupassen. Vielleicht werden wir dann nicht mehr permanent von allen belagert, damit sie uns irgendwie das Geld aus der Tasche ziehen können. Außerdem sind meine langen Haare bei den hiesigen hygienischen Bedingungen eh kaum zu pflegen. Wir haben vier Stunden Zeit und auf der Straße ist man hier sowieso vor nichts sicher. Ich glaub ich geh zum Frisör. Und eine Rasur könnt ich auch gebrauchen.” “Echt jetzt?”, fragt mich Hans etwas ungläubig. “Hast Du etwas Besseres vor?”, frage ich ihn. “Naa, hast eh recht! Why not! Das könnt ja spaßig werden.”
Wir betreten also den Frisörladen. Es ist ein enger, dunkler, länglicher Raum, nicht mehr als gut zwei Meter breit und etwa doppelt so lang. Über die gesamte Länge ziehen sich beidseits lange Spiegel, am unteren Ende von einem Holzbrett abgeschlossen, auf dem alle möglichen Frisörutensilien stehen. Entlang der Oberkante eine Reihe Neonröhren welche jedoch nicht eingeschaltet sind, weswegen der Raum in diffusem Halbdunkel vor uns liegt. Auf der linken Seite befinden sich zwei auf der rechten Seite ein alter, abgewetzter mit buntem Kunstleder bezogener Drehpolstersessel, die allesamt schon wesentlich bessere Tage erlebt haben. Die Wände sind in schmutzigem grau-blau gehalten, wobei in früheren Zeiten die Farbbeschreibung sicherlich weit mehr zu einem klaren blau hin tendiert hätte. Außerdem zieren ein paar Götterbilder, ein jedem Elektriker Furcht einflößender Schaltkasten sowie der unveremeidbare Wandkalender mit hinduistischen Weisheiten die finsteren Wände. Über all dem dreht leise klappernd ein hölzerner Deckenventilator seine Runden.
Als wir eintreten begrüßen uns drei Menschen mit einem synchronen, freudestrahlenden: “Hello!” Ein älterer Mann mit Dreitagebart und Schnauzer, der ein bisschen aussieht wie eine frisch rasierte, indische Version von Janosch, ein kugelbäuchiger Mann mit ebensolch rundem Gesicht, das von dichten schwarzen Locken umrahmt wird und ein kleiner Junge, der aussieht wie acht, also vermutlich zwölf Jahre alt sein dürfte. Der Junge richtet das Wort an uns: “Yu want shaving, hairrcutting?” Sit down, sit down!”, und schon finde ich mich auf einem rotbraun tapezierten Frisörstuhl wieder. Hans windet sich und es gelingt ihm schließlich, dem Jungen klar zu machen, dass nur ich einen Haarschnitt möchte. Also wendet sich dieser wieder an mich: “What do yu want, Sirr, shaving?”, wobei er ganz fasziniert meinen nicht mehr ganz akkurat gestutzten Vollbart anstarrt. Obwohl er neben dem Drehstuhl steht, auf dem ich sitze, überrage ich ihn um einen halben Kopf. “Yes, please, shaving”, sage ich, “ I want a moustache and also a haircut, Indian style.” “Indian style is verry goood”, strahlt mich der Bursche an, “we make yu a perrfect Indian! Yu loook very nice afterr! How yu want moustaache?”, fragt er mich und befummelt sogleich meine Oberlippe, um mir ein paar mögliche Designs zu demonstrieren: “Like thiis, or betterr like thiis,…?” “Ähh, I don´t know, just a moustache Indian style. It´s up to you.” “Yess, yess, we gonna make yu verry, verry nice moustaache”, trällert er wie ein fröhliches Vöglein. “I am Ganesh!”, streckt er mir nun enthusiasmiert die Hand entgegen, “this is my faatherr and this my grrandfaather, he is the ownerr of this shop.”, stellt er den Familienbetrieb vor. Vater und Großvater schauen mich scheu lächelnd an, ihr Blick verrät einerseits Stolz auf den Jungen und seine Englischkenntnisse, andererseits Zweifel, ob wir das auch so sehen.
Der Junge nimmt eine frische Rasierklinge aus einer Packung und legt sie in ein pinkes Plastikrasiermesser ein. Kurz verlässt mich der Mut, als ich daran denke, dass der kleine Knopf von etwa zehn Jahren, den ich selbst sitzend überrage, mich mit einer messerscharfen Rasieklinge bearbeiten soll. Glücklicherweise legt er das Rasiemesser beiseite, richtet noch ein paar andere Dinge vor mir auf dem Holzregal her und zieht sich zurück, um Hans zu bequatschen. Nun nähert sich bedächtig Großvater, faltet neben meinem Stuhl stehend die Hände zu einem Namaste vor der Brust und nickt sanft lächelnd mit dem Kopf. Er dürfte des Englischen nicht so mächtig sein wie sein gesprächiger Enkel. “Hairr”, sagt er etwas unsicher, “firrst hairr!” “Yes, yes”, bestärke ich ihn, “short, Indian style, long hair is too hot here.” Der alte Inder beutelt den Kopf sanft in einer horizontalen Wellenbewegung, was aussieht wie ein verneinendes Kopfschütteln, für gewöhnlich aber ‚ja‘ bedeutet, jedoch auch alles andere außer eben ’nein‘ bedeuten kann, wie wir in den letzten Tagen bereits gelernt haben. Er nimmt ein schmutzig-weißes Leinentuch und legt es mir um die Schultern. Mit einer großen, alten Schere beginnt er, mir flink und geschickt die langen Haare abzuschneiden. Er geht dabei derartig fingerfertig, sanft aber bestimmt vor, fragt mich zwischendurch immer wieder: “Is good, Sirr?”, dass ich mich bald sehr entspannen kann. Im Hintergrund höre ich, wie der Junge auf Hans einredet und ihn scheinbar über unsere Heimat ausfratschelt. Ich schließe die Augen, genieße einfach und drifte gedanklich ein wenig ab. “Sirr, finish!”, holt mich die ruhige Stimme des Großvaters wieder zurück in den Frisiersalon, “Look! Good?” Er hält mir einen Rasierspiegel hinter den Kopf, sodass ich den neuen Haarschnitt rundherum betrachten kann. Ich grinse mir mit dem perfekten Seitenscheitel eines Internatszöglings aus der Zwischenkriegszeit aus der Speigelwand selbst entgegen. Sieht echt krass aus, vor allem der ungestutzte Vollbart passt nun so gar nicht mehr dazu. “Very good, now shaving, please”, erwidere ich, “a moustache also Indian style, something like this”, fordere ich ihn auf und demonstriere ihm mit den Fingern, was ich mir vorstelle, ohne in Wahrheit auch nur die geringste Ahnung davon zu haben. Großvater beutelt wieder zustimmend den Kopf, nimmt einen Rasierpinsel und Schaum und beginnt mir das Gesicht einzucremen. Zugegebenermaßen bin ich jetzt ein wenig nervös, wird doch sogleich ein wildfremder Mann mit einer frischen Rasierklinge im Bereich meiner Hauptschlagader herumhantieren, doch meine Sorge erweist sich als vollkommen unberechtigt. Mit fingerfertigen, raschen Zügen des durch Großvaters Hände geführten Rasiermessers, geht es meinem Bart sozusagen an die Wurzeln. Die Augen schließe ich zwar nicht mehr, dennoch erlebe ich die Prozedur durchaus als Entspannung. Kurze Zeit später weist mich der Frisör an, sein Werk zu betrachten. Ich erkenne mich selbst kaum wieder. Kurzes, seitengescheiteltes Haar und ein schmaler, blonder Clark Gable Schnurrbart zieren meinen Kopf. Den Indian Style hat Großvater scheinbar verinnerlicht. Hans tritt an mich heran und ich merke, dass er sich ein Lachen nur schwer verkneifen kann. Plötzlich ist auch der Junge wieder da und frägt mich: “Do yu want a massaage, Sirr? A massaage of yourr head and face?” “Gesichts- und Kopfmassage”, denke ich, “warum nicht, wenn ich schon einen indischen Frisör ausprobiere, dann ordentlich”, und bejahe die Frage. Der Junge spricht mit seinem Großvater kurz auf Tamil und verschwindet dann aus dem Lokal auf die Straße. Großvater nimmt eine Plastiksprühflasche, legt mir die Hand über die Augen und besprüht mein Gesicht und die Haare mit Flüssigkeit. Sogleich macht sich ein intensiver Blütenduft im Raum breit. Die folgenden Minuten, die mir wie eine herrliche Ewigkeit vorkommen, bearbeitet der alte Mann meine Kopfhaut und mein Gesicht mit derartiger Energie und Kraft, die so gar nicht zu seiner schmächtigen Erscheinung und seiner sanften Fingerfertigkeit beim Rasieren zuvor passen wollen. Er knetet, drückt, wischt, tätschelt, streicht und reibt, dass mir teilweise meine Schädelknochen zu knirschen scheinen. Langsam macht sich eine warme Wohligkeit in meinem Kopf breit und ich schließe wieder die Augen und genieße einfach.
“Finish, Sirr!” Wieder holt mich die Stimme des Alten aus meiner Tiefenentspannung. Zuletzt trocknet er mir mit einem kleinen Handtuch Haare und Gesicht und fragt treuherzig: “Yu feel good? Is good?” “Yes, perfect”, entgegne ich, “very good, very well done. It – looks great!” Hinter mir höre ich Hans, sich laut räuspern.
Plötzlich betritt der Junge mit einem mit Chaigläsern beladenen Tablett wieder den Laden. Er gibt mir und Hans einen Chai und auch er selbst, sein Vater und Großvater bekommen einen Tee. Wir trinken den Chai und plaudern noch mit dem Jungen und den zwei Männern. Sie möchten viel über unsere Herkunft wissen, wobei es ein Weilchen dauert, bis sie verstanden haben, dass wir nicht aus ‘Australia’, sondern aus ‘Austria in Europe’ kommen. “Jetzt müss ma aber unbedingt no a Foto machen!”, sagt Hans schließlich, “dei Outfit ghört einfach sowas von dokumentiert und für die Nachwelt festgehalten. Is ja so schräg!” Ich gebe ihm meine Kamera und die derei Inder sind sofort vollauf begeistert, als sie diese sehen. Ich setze mich noch einmal auf den Frisörstuhl und Großvater Janosch stellt sich neben mich. Behutsam und vertraut legt er seine schmale, langfingerige Hand auf meine, lächelt mit verschmitzt blinkenden Augen in die Kamera und wirkt so rundum zufrieden. Hans macht das Foto, und vor lauter Faszination über das Geschehene möchten wir den Frisörladen schon verlassen, als Hans sich zu mir umdreht und meint: “Hamma überhaupt scho zahlt?” “Scheiße! Peinlich!”, entfährt es mir und ich wende mich noch einmal um. Opa Janosch lächelt mich an wie Buddha. “How much is ist?”, frage ich ihn. “Ah, sixty rrupees, Sirr”, entgegnet er. “Wahnsinn”, denke ich mir, “ein Euro zwanzig für diese Wellnessbehandlung!”, und gebe ihm 80 Rupien. “Thank you very much, you did a wonderful job!”, bedanke ich mich bei ihm, “the rest is for your grandson, who is such a nice boy.” Der alte Inder strahlt wie ein Honigkuchenpferd und schüttelt Hans und mir fest, lange und intensiv die Hand. Wir verabschieden uns auch von Vater und Sohn und übergeben uns wieder dem Gewirr vor der Türe draußen. Lärm und Schwüle erschlagen uns fast, als wir aus diesem Ort der friedlichen Stille auf die Straße treten. Plötzlich prustet Hans los und kann sich kaum mehr halten vor lachen: “Alter, Du schaust soo lächerlich aus, sensationell!” “Please, Sirr, maintain yourr good mannerrs! I´m an Indian Sirr!”, schelte ich ihn und lachend gehen wir zurück zum Bahnhof.
Glossar
- Chai – Tee, üblicher weise mit Milch und sehr viel Zucker zubereitet
- Chaiwallah – Teeverkäufer
- Rikscha – Kleintaxi für 2 bis 3 Personen. Es gibt Rikschas, die von Hand gezogen werden, Fahrradrickschas oder dreirädrige Rickschas mit Zweitakt-Ottomotor.
Ich heiße Wolfram, aber meine Freunde nennen mich Wolli. Im Jahr 2000 reiste ich das erste Mal nach Indien. Mein treuer Reisepartner war mein bester Freund Hans. Gemeinsam entflohen wir einer tiefgreifenden Existenzkrise, die uns damals in Österreich erfasst hatte. Es war meine erste große Auslandsreise, die mich über die Grenzen Europas hinaus brachte. Als solche war der Trip für mich eine unglaubliche Horizonterweiterung und Bereicherung, der eine bis heute andauernde Liebe zu diesem Land, in dem es nichts gibt, was es nicht gibt, entfachte. Hiermit möchte ich Euch, werte LeserInnen, in Form meines Tagebuches an dieser spannenden und ereignisreichen Reise teilhaben lassen.