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Wolli im Wunderland. Tagebuch einer Indienreise #12

Teil 12: Aufbruch ins Unbekannte

 

19.09.2000 Westghats

Wie befürchtet, bewahrheitet sich, dass der gestrige Feni kein Qualitätsschnaps war: Mir brummt beim Aufstehen ordentlich der Schädel. Ein ausgiebiges Frühstück vom Buffet des Hotel Paris verschafft glücklicherweise einigermaßen Besserung. Danach packen wir Schlafsack und kleinen Tagesrucksack zusammen und geben Ranesh Bescheid, dass wir zumindest zwei Tage weg sein werden, unser Zimmer aber behalten. Natürlich möchte er wissen, was wir vor haben und reagiert irgendwie zwischen besorgt, erheitert und verständnislos, als wir ihm von unserem Plan erzählen, in den Westghats wandern zu gehen. Er wünscht uns viel Glück und wir mögen auf uns aufpassen.

Wir nehmen eine Rikscha nach Mangalore und besteigen den nächsten K.S.R.T.C.-Bus in Richtung Bangalore. Es ist ein altes, klappriges rotes Gefährt mit engen harten Holzbänken und Faltjalousien statt Glasscheiben in den Fenstern. Wir ergattern gerade noch zwei Sitzplätze im bereits fast vollen Bus und nachdem der Fahrer diverses Gepäck auf dem Dachträger verzurrt hat, geht es los. Uns gegenüber sitzt eine ältere Frau in einem bunten, goldbestickten Sari. Aus dem großen mit einem Deckel verschlossenen geflochtenen Korb auf ihrem Schoß gackert es unaufhörlich.

K.S.R.T.C. Bus (via pinterest.at)

Als der Schaffner kommt und uns fragt, wohin wir fahren möchten, fällt uns auf, dass wir keine Ahnung haben, bis wohin wir fahren sollten geschweige denn, wie es dort heißt. Wir versuchen eher erfolglos, dem Schaffner zu erklären, dass wir in die Westghats fahren, um zu wandern. Nach einigem hin und her meint der Schaffner, zu erahnen, was wir wollen und gibt uns einen (vermutlich) Ortsnamen preis, den wir natürlich nicht verstehen. Der Einfachheit halber nicken wir unisono und erhalten so unsere Fahrkarten. Der Preis ist jedenfalls viel billiger, als die Fahrt nach Bangalore wäre, also geben wir uns zufrieden. Wohin genau wir wollen und ob wir mit unserem Ticket dort hin kommen, wissen wir allerdings immer noch nicht.

Der Bus fährt zunächst dem Tal des Nethravati-Flusses entlang. In den voll besetzten Bus steigen bei jeder Station noch mehr Leute ein, bis sie schließlich auch außen am Trittbrett mitfahren. Nach einiger Zeit verlässt die Straße das Tal und beginnt sich in zahlreichen Kurven durch den immer dichter werdenden Wald die Abhänge der Westghats empor zu schlängeln. Immer wieder tun sich herrliche Blicke auf die grünen, teilweise Wolken verhangenen Gipfel oder die blau-grüne Küstenlinie immer tiefer unter uns auf. Ich genieße die Landschaft und freue mich auf die bevorstehende Wanderung. Je höher sich der Bus empor windet, um so mehr Passagiere verlassen ihn nun bei jedem Halt langsam wieder.

„Was hältst du von dem da?“, durchbricht Hans‘ Stimme meine Gedanken. Er schaut und zeigt auf der anderen Busseite zum Fenster hinaus. Ich folge seinem Finger und erblicke einen langgezogenen, gras- und buschbewachsenen Grat der etwa in seiner Mitte von einer Felskuppe überragt wird. „Wow, sieht gut aus“, meine ich, „von dort oben hat man sicher eine tolle Aussicht.“ In diesem Moment wird die Straße etwas flacher und an ihrem Rand tauchen ein paar Hütten aus Holz und Palmblättern auf. „Los, lass uns hier raus!“, sagt Hans euphorisch, „Ich glaub wir sind am Ziel!“ „Sieht so aus!“, entgegne ich freudig. Wir deuten dem Schaffner, dass wir hier aussteigen möchten, worauf dieser uns recht verwundert anblickt und uns zu verstehen gibt, dass wir unser Fahrziel doch noch gar nicht erreicht hätten. Da wir hartnäckig bleiben, gibt er schließlich dem Fahrer ein Zeichen, stehen zu bleiben. Wir schnappen unsere Rucksäcke und verlassen den Bus. Als dieser weiter fährt, blicken uns viele Inder durch die Heckscheibe an. Einer davon schüttelt energisch den Kopf.

Westghats Panorama (via Wikimedia Commons)

Die Hütten am Straßenrand sind Stände, an denen man Snacks, Getränke und allen möglichen Kleinkram erstehen kann. Die indische Version einer Autobahnraststation quasi. Ich ziehe die warme, feuchte Luft tief durch meine Nase ein. Es riecht nach feuchtem Waldboden, Curry und Chai. „Noch schnell einen Tee, bevor wir starten?“, frage ich Hans. „Why not? Aber warum schnell?“ Lass uns doch noch ein bisschen innehalten, ehe wir los marschieren.“ Recht hat er! Ich hole uns zwei Chai und wir setzen uns auf eine kleine, wackelige Holzbank zwischen den Ständen. Bald beginnen die umherstehenden Menschen offensichtlich über uns zu tuscheln und nach wenigen Minuten tritt einer auf uns zu und fragt uns die, wie wir mittlerweile wissen, unvermeidlichen Begrüßungsfragen, die uns immer wieder gestellt werden: „Hello! What is yurr names? Wherr arr yu frrom? What is yurr job? Arr yu married?“ Artig beantworten Hans und ich die Fragen, was zum ebenso fast unvermeidlichen, „Ahh, Austrralia! Kangarroos!“, führt Noch bevor ich zu einem Erklärungsversuch ansetzen kann, stellt Hans mit einem lauten, „Yes, yes, kangaroos, and koalas!“, klar, dass er nicht zu Erklärungen aufgelegt ist. Der kleine Inder, der mit seinem khakibraunen Gewand wie ein weiterer Busschaffner aussieht, scheint ob der Lautstärke von Hans‘ Erwiderung etwas eingeschüchtert und fragt umso leiser: „What arr yu doing herre?“ Wir erklären ihm so gut es geht, dass wir den gegenüber aufragenden Berg besteigen möchten, ernten jedoch nichts als verständnislose Blicke aus großen, schwarzen Augen. „Komm, lass uns los gehen“, meint Hans zu mir, „ ich brauch ein bissl Natur!“ Ich verabschiede mich höflich von dem Mann, der uns jedoch nach wie vor nur unglaubwürdig anstarrt. Er scheint seine Sprache noch nicht ganz wieder gefunden zu haben. Wir gehen die Straße entlang weiter und als ich mich noch einmal umdrehe steht unser Gesprächspartner heftig gestikulierend mit einer Gruppe anderer Inder beisammen. Er hat seine Sprache offensichtlich doch recht schnell wieder gefunden.

Dichtes Gras an den Hängen der Westghats (via browse.startpage.com)

Da die Straße vom Berg, den wir als Ziel auserkoren haben, durch einen tiefen, schmalen Graben getrennt ist, gilt es zunächst einen Weg zu finden, diesen zu überqueren. Hans und ich einigen uns darauf, zunächst einmal die Straße weiter bergan zu gehen, was sich als richtiger Entschluss erweist. Nach wenigen Minuten zieht der Graben zur Straße hoch und wir befinden uns auf einem kleinen mit Gras bewachsenen Sattel. Wir überqueren die Wiese, auf der vereinzelt kleinwüchsige Laubbäume mit fleischigen, dunkelgrünen Blättern stehen. Am Fuße des Gegenhangs wird das Gras plötzlich höher und wächst sehr dicht. Wir lassen uns davon zunächst nicht beeindrucken, bis Hans sich zu mir umwendet, mich fragend ansieht und sagt: „Sag mal, in Indien gibt es doch Kobras, oder?“ „Ähh, ja“, erwidere ich etwas überrumpelt, „und sicher auch andere Schlangen und was weiß ich was noch für Getier.“ „Glaubst Du hier auch?“ „Keine Ahnung, wenn seh ich sie jedenfalls nicht in dem dichten Gras.“ „Okay, vielleicht sollten wir etwas vorsichtig sein“, folgert Hans und bricht sich einen trockenen, Ast von dem Baum ab, an dem wir gerade vorbeigehen. 

Auch ich suche mir einen Ast und so „pflügen“ wir, mit den Stecken das nun kniehohe Gras vor uns teilend, weiter bergwärts. Der Hang wird steiler und als auch noch die Sonne durch die Wolken bricht und ziemlich stechend auf uns nieder scheint, erreichen wir glücklicherweise den Waldrand. Weiter geht es durch Laubwald aus hohen Bäumen mit dicken Stämmen, deren dichte Kronen uns vor der Sonne schützen. Kühl ist es deswegen noch lange nicht. Der Boden ist weich und laubbedeckt. Es riecht nach Feuchtigkeit und Moder. Die Äste dienen uns nun als Wanderstecken, da es zunehmend steiler wird und wir auf weglosem Gelände unterwegs sind. Ich halte immer wieder inne, da es mittlerweile auch im Schutz des Waldes ordentlich heiß geworden ist und mir in der feuchten Luft das Atmen nicht leicht fällt. Es ist herrlich ruhig. Kein Lüftchen regt sich und nur hin und wieder hört man einen Vogel zwitschern. Weiter und weiter streben wir gipfelwärts. Mir fällt das Gehen bergauf zunehmend schwerer, ich bin nassgeschwitzt und keuche. „Hans, ich brauch mal ne Pause“, melde ich mich zu Wort, nachdem wir bereits längere Zeit schweigend hintereinander hergegangen sind. Wie lange mochten wir bereits unterwegs sein? Wie hoch waren wir schon gekommen? Ich habe jegliches Gefühl für Zeit und Raum verloren, befinde mich wie in Trance.

Wir setzen uns auf einen umgefallenen Baum und packen unsere Jause aus. Ich trinke meine Wasserflasche in einem Zug zur Hälfte aus, da mein Rachen total ausgetrocknet ist. Wandern in diesen Breiten ist doch etwas anderes, als im gemäßigten österreichischen Klima.

„Sag mal, bist Du auch so fertig?“, frage ich Hans, „ich fühle mich bereits wie nach einer Tagestour.“ „Na, geht eigentlich“, meint er, „aber Hunger hab ich jetzt auch schon“, und beißt in eines der mitgebrachten Idlis. „Aber schön ist´s schon hier. Nur schade, dass wir keine Aussicht haben.“ „Die wird schon noch kommen, am Gipfel.“ „He schau mal, hier kommen doch Leute vorbei“, stellt Hans plötzlich fest und deutet kauend mit dem Kopf den Hang entlang. Tatsächlich steht dort in einer Mulde ein kleines Flugdach aus Zweigen und Blättern auf vier starken, in den Boden gerammten Ästen. „Was ist das? Ne Jagdhütte?“ „Vielleicht ne Wildfütterung“, fällt mir dazu ein. Nachdem wir unserer Fantasie zu dieser unerwarteten menschlichen Zivilisationserscheinung hier inmitten des südindischen Bergwaldes noch etwas freien Lauf gelassen haben, packen wir unsere Sachen zusammen und ziehen weiter dem Gipfel entgegen.

Westghats (via Wikimedia Commons)

Nach geraumer Zeit wird das Gelände langsam flacher, was mir sehr entgegen kommt, denn ich bin bereits sehr kurzatmig. Alle paar Schritte muss ich stehen bleiben, um Luft zu holen. Der Schweiß rinnt geradezu über mein Gesicht. Immer öfter greife ich zur Wasserflasche. Irgendwie fühlt sich das alles sehr eigenartig an. Die Bäume werden wieder kleiner und das Unterholz nimmt zu. Das Wetter erscheint mir nun vollends tropisch. Plötzlich öffnet sich das Unterholz und ich trete auf ein  schmales, langgezogenes mit Gras und Büschen bewachsenes Plateau. Rundherum sieht man auf weitere grün bewachsene Bergrücken von etwa gleicher Höhe. Grün, soweit das Auge reicht! Das Plateau entlang windet sich ein schmaler, erdiger Trampelpfad. Hans ist ihn bereits ein wenig entlang gegangen und ruft aus einiger Entfernung: „Schön hier, nicht wahr! Und soo ruhig!“ Ich horche und stelle fest, dass ich tatsächlich nur den Pulsschlag in meinen Ohren höre und fühle. Und die Schweißperlen auf meiner Stirn, als mich plötzlich ein kalter Schauer durchfährt. Mein gesamter Körper wird durchgeschüttelt, ohne, dass ich mich dagegen wehren kann.

„Hey, gehen wir den Grat noch ein wenig entlang?“, ruft mir Hans, der wieder zu mir zurück kommt, entgegen, ehe er wenige Meter vor mir erstarrt und ein, „Wie siehst denn du aus?“, ausstößt. „Wieso, was ist los?“, entgegne ich, obwohl ich mir die Antwort schon denken kann. „Na, du siehst aus wie ein Blatt Papier – kasweiß! Geht´s dir nicht gut?“ Als Antwort beutelt mich ein heftiger Schüttelfrost. Erst jetzt merke ich, dass mir auch im Stehen noch der Schweiß in zahlreichen Rinnsalen von der Stirn rinnt. Als ich sie wegwischen will, spüre ich, dass meine Stirn ganz heiß ist. Gleichzeitig fröstelt’s mich. „Scheiße, ich glaub ich hab Fieber“, bringe ich schwach heraus. Hans kommt zu mir, legt mir seine Hand auf die Stirn und meint: Oh ja, und zwar nicht zu wenig. Du glühst ja richtig! Mist, was machen wir?“ „Ich setz mich jetzt mal einfach nur hier hin“, seufze ich und sacke beinahe zusammen. Hans wühlt in unseren Rucksäcken herum, reicht mir seine Wasserflasche und richtet mir eine kleine Jause. Während ich mich lustlos stärke, machen wir Lagebesprechung. Den Grat entlang weiter wandern kommt in meinem Zustand definitiv nicht in Frage. Am liebsten würde ich, wo ich bin, liegen bleiben und einfach nur schlafen. Aber in Anbetracht meines Zustands erscheint uns auch das nicht als ideal, hier mitten in der Wildnis. Schließlich hat Hans, der im Gegensatz zu mir noch klar denken kann, eine Idee: „Erinnerst du dich an den Unterstand, an dem wir beim Aufstieg vorbei gekommen sind? Meinst du, du schaffst es noch bis dorthin? Dann wären wir zumindest noch ein bisschen weiter in Richtung Tal und hätten ein Dach über dem Kopf. Dort können wir ja nochmal schauen, wie´s weiter geht.“ Da ich mich nach der Stärkung etwas besser fühle, machen wir uns also auf den Weg zurück Richtung Tal. Hans packt unsere Rucksäcke um, sodass ich nichts Schweres zu tragen habe und ich folge ihm Schritt für Schritt elendiglich langsam zurück in den Wald.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, zahlreichen Schüttelfrostattacken und einer kurzen Suche entdecken wir tatsächlich wieder das kleine Flugdach. Ich sinke darunter regelrecht zusammen, Hans richtet mir eine Schlafstatt und steckt mich, wie ich bin, in den Schlafsack, da mittlerweile klar ist, dass ich nicht mehr weiter gehen kann. Dort liege ich, friere, werde periodisch durchgeschüttelt, dämmere zwischenzeitlich immer wieder weg und kann mich nicht einmal mehr freuen, endlich einfach nur liegen zu können. Zwischen Fieberschüben und kurzen Schlafphasen nehme ich wie aus einer Blase heraus wahr, dass Hans Holz sammelt und versucht, ein Feuer zu machen. Weil aber alles Holz in der Umgebung feucht ist, bekommt er nur eine stark rauchende Glut zusammen. Trotzdem klappt es  irgendwie, mir Wasser zu erhitzen und mir einen Tee zu machen, den ich langsam und erschöpft schlürfe.

Bald darauf beginnt es zu dämmern und Hans schafft es gerade noch, sich selbst ein Nachtlager zu richten, ehe es binnen Minuten stockdunkel wird. Im dichten Wald ist es nun kohlrabenschwarz. Man sieht die Hand vor Augen nicht. Nur die Glut knistert leise und orange leuchtend vor sich hin. Plötzlich scheint der Wald zu erwachen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich davor Geräusche einfach nicht mehr wahr genommen habe, oder es tatsächlich sehr still wahr. Jetzt jedenfalls raschelt es hier, flattert es dort, keucht es da drüben und schnaubt es gegenüber. Der Wald steckt plötzlich voller unbekanntem Leben. Auf einmal lodert das Feuer etwas auf und aus dem tiefen Schwarz des Waldes starrt mich ein gelb funkelndes Augenpaar an. Sogleich wird es wieder dunkel – und bleibt es.

 

Glossar:

 


Ich heiße Wolfram, aber meine Freunde nennen mich Wolli. Im Jahr 2000 reiste ich das erste Mal nach Indien. Mein treuer Reisepartner war mein bester Freund Hans. Gemeinsam entflohen wir einer tiefgreifenden Existenzkrise, die uns damals in Österreich erfasst hatte. Es war meine erste große Auslandsreise, die mich über die Grenzen Europas hinaus brachte. Als solche war der Trip für mich eine unglaubliche Horizonterweiterung und Bereicherung, der eine bis heute andauernde Liebe zu diesem Land, in dem es nichts gibt, was es nicht gibt, entfachte. Hiermit möchte ich Euch, werte LeserInnen, in Form meines Tagebuches an dieser spannenden und ereignisreichen Reise teilhaben lassen.

 

 

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