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Wolli im Wunderland. Tagebuch einer Indienreise #7

Teil 7: Mamallapuram, Affe, Steinmetze, Carrom

10.09.2000

Die letzten Tage sind wir hauptsächlich am Strand auf der faulen Haut gelegen. Mal so richtig die Seele baumeln lassen und nichts tun. Das Resort haben wir eigentlich nur verlassen, um in den Fluten der Bucht von Bengalen zu planschen, in einem der umliegenden Strandrestaurants herrlichen, frischen Fisch zu essen, Gold Flake und Kingfisher zu kaufen, die neben unglaublich billigem Gras, das man uns hier immer und überall andrehen will (was wir natürlich gerne annehmen), mittlerweile zu unseren treuen und ständigen Begleitern geworden sind. Heute jedoch starten wir noch einmal nach Mamallapuram, um im Ort herum zu strawanzen und John die Enfield zurück zu geben. Schließlich soll morgen unsere große Tour beginnen. Wir wissen bisher zwar, wohin sie uns führen wird, aber gerade deswegen freuen wir uns beide schon darauf, wie kleine Kinder auf Weihnachten. Morgen werden wir Mamallapuram verlassen und Richtung Chennai aufbrechen.

Steinmetz bei der Arbeit (via lostinthe.world)

Doch heute eben noch einmal Mamallapuram. Hier brachte die Pallavadynastie ihre Steinmetzkunst zur Vollendung. Der Ort selbst und die Gegend rundherum sind voll von aus monolithischen Granitblöcken gehauenen Tempeln. Im Ort selbst ist an jeder Ecke eine Steinmetzschule, aus denen permanent ein vielstimmiges Klopfen und Hämmern durch die Straßen hallt. Auf der Straße und in unzähligen Geschäften versuchen hunderte Inder den Touristen zu lächerlich überhöhten Preisen Steinmetzarbeiten anzudrehen – vom kleinen Anhänger bis zum mannshohen Elefanten. Als Weißer, dessen relativer Reichtum offensichtlich ist, ist es quasi unmöglich sich diesen teilweise penetranten Geschäftspraktiken zu entziehen und nicht immer fällt es leicht, dabei die Contenance zu bewahren, wie wir selbst noch am eigenen Leib erfahren werden.

Der Küstentempel (Wikimedia Commons)

Eine der größten Attraktionen ist der Küstentempel aus dem 8. Jahrhundert, der leicht erhöht direkt am Strand steht. Da der Eintritt für Ausländer jedoch zehnmal so viel wie für Einheimische kostet, und es uns bereits nervt, dass wir ständig ein Vielfaches des eigentlichen Preises zahlen müssen, bloß weil wir weiß sind, verzichten wir darauf, dieses UNESCO-Weltkulturerbe zu besichtigen. Stattdessen beschließen wir, noch einmal den Hügel im Ort zu erklimmen und uns dort umzuschauen. Auf der Othavadai Street sehen wir ein paar junge Männer am Straßenrand um einen kleinen Stehtisch herum gruppiert, die sich köstlich amüsieren. Wir versuchen herauszufinden, worüber, woraufhin sofort einer auf uns zu kommt und sich vorstellt: „Hello my frriends! I am Vijay. Come herre, have a look. I am playing Carrom with some frriends.” Angenehm überrascht nehmen wir wahr, dass die Begrüßung nicht die üblichen Fragen nach Name, Herkunft, Alter und Familienstand enthält, weswegen auch wir uns freundlich vorstellen und zum Tisch treten. Vijay sieht aus wie achtzehn, was heißt, dass er vermutlich Mitte Zwanzig sein wird. Wie wir festgestellt haben, sehen Inder grundsätzlich wesentlich jünger aus, als sie tatsächlich sind. Vijay ist ausgesprochen dunkel, hat unglaublich dichtes, kohlrabenschwarzes Haar und einen ebensolchen, glänzenden Schnauzbart. Auf dem Tisch liegt ein quadratisches, helles Holzbrett mit einem breiten, schwarzen Rahmen. Das Brett ist in der Mitte mit einer Art bunter Windrose bemalt und rundherum mit mehreren Linien versehen. In den vier Ecken sind runde Löcher ausgeschnitten und quer über das Brett verteilt liegen Mühlesteine. „What´s that?“, frage ich interessiert. „This is Carrom. It is an Indian game everrybody herre likes to play a lot, even the childrren alrready play. Otherrs play football or carrds, Indians play Carrom, yu know”, klärt uns Vijay auf, “it is like Pool but with yourr fingerrs, look!” Eben schnippt sein Freund einen etwas größeren, runden Spielstein mit den Fingern auf die Mühlesteine. Diese flutschen daraufhin kreuz und quer über das Brett, bis einer schließlich in einem der Löcher in den Ecken verschwindet. „Yu see, that is all! It is verry easy. Yu wanna trry?”, fragt uns Vijay. Er erklärt uns das Spiel. Zwei sich am Brett gegenüberstehende Personen spielen gegeneinander. Jeder hat einen Spielstein, den sogenannten Striker. Er hat etwa drei bis vier Zentimeter Durchmesser und ist aus Plastik. Jeder hat neun Mühlesteine am Brett, einer in weiß, der andere in schwarz. Von einer doppelten Grundlinie aus schnippt man den Striker mit den Fingern auf die Mühlesteine und versucht die der eigenen Farbe in einem der Löcher in den Ecken zu versenken. Ein Mühlestein ist rot, die sogenannte Queen. Versenkt man diese, so muss sie mit dem unmittelbar nächsten Stoß durch das Versenken eines eigenen Steins „bestätigt“ werden, wofür es Extrapunkte gibt. Gewonnen hat, wer als erstes alle eigenen Steine und die Queen versenkt hat. Unter herzlichem Gelächter von Vijay und seinen Freunden machen Hans und ich unsere ersten zunächst patscherten Versuche am Carrombrett.

Carromspieler (via hiveminer.com)

Nach wenigen Minuten schmerzen uns die Finger und zunächst gelingt es uns kaum, einen kontrollierten Stoß auszuführen. Doch schon bald bekommen wir etwas Gefühl dafür und die ersten Steine verschwinden in den Ecktaschen. Es macht wirklich Spaß. Man kann Carrom auch zu viert spielen, wobei die zwei am Tisch gegenüber stehenden jeweils ein Team bilden. Vijay und seine Freunde sind nett und lustig und behandeln uns im Gegensatz zu den allgegenwärtigen Steinmetzen hier im Ort ziemlich normal. Als plötzlich einer seiner Freunde mit einer Flasche Kingfisher auftaucht, die, im schwarzen Plastiksack versteckt, die Runde am Tisch macht, ist das Eis endgültig gebrochen. Wir spielen eine Runde nach der anderen, wobei Hans und ich natürlich von den Lokalmatadoren permanent vollkommen verputzt werden. Das erste Kingfisher ist bald geleert und Hans holt Nachschub beim Alkoholladen am nächsten Eck. Irgendwann erzählt uns Vijay, er sei Steinmetz und besitze den Laden gegenüber, den wir uns natürlich anschauen müssten. „Yu don´t buy, just look! I wanna show yu what I make!”, umgarnt er uns gekonnt. Nach der netten Carrom-Lehrstunde können wir da natürlich schwer nein sagen, obgleich uns mittlerweile klar ist, dass es selbstverständlich nur darum geht, uns etwas zu verkaufen. Wir wechseln also die Straßenseite und betreten seinen Laden. Es ist ein kleiner rechteckiger Raum, spartanisch aber bemüht mit selbstgebauten, wackeligen Regalen eingerichtet, die vor Steinmetzarbeiten überquellen. Vijay gibt uns eine ausführliche Führung durch seine Kollektion, wobei er zu den meisten Stücken, vom kleinen Specksteinanhänger bis zum ein Meter hohen, sitzenden Marmorshiva eine Geschichte zu erzählen weiß. So ist der Shiva angeblich ein Auftragswerk für einen Tempel in Thailand. Als wir uns verabschieden, haben Hans und ich uns jeder ein schönes Chillum und einen Haufen anderer Kleinigkeiten als Geschenke für zuhause zusammen gekauft, wobei uns der Preis dafür einigermaßen fair vorkommt. Da wir aber ja eigentlich noch ein bisschen durch Mamallapuram streifen wollen, verabschieden wir uns, nicht, ohne uns für morgen für eine weitere Partie Carrom zu verabreden.

Der Leuchtturm von Mamallapuram (via pondicherrytours-travels.com)

Wir wandern auf den Hügel inmitten von Mamallapuram zum Leuchtturm hinauf. Dieser steht alleine auf einem großen Granitmonolithen mit herrlichem Blick auf den Ort und die Bucht von Bengalen. Da heute Sonntag ist, sind viele Wochenendtouristen aus Chennai hier. Massen an indischen Mittelstandsfamilien bevölkern den Hügel. Frauen in farbenfrohen Saris, Männer mit dichten Schnurrbärten in strahlend weißen Hemden und Bundfaltenhosen, Mädchen in bunten Blumenkleidern und geschniegelte, oft übergewichtige Buben in drolligen Anzügen. Die Frauen unterhalten sich oder schimpfen die Kinder, während die Männer sie dabei fotografieren. Die Kinder spielen abfangen, raufen, bewerfen sich mit Steinchen, rennen herum, essen Eis oder tun mehrere Dinge davon gleichzeitig. Plötzlich gibt es etwas weiter einen Aufruhr. Die Leute schreien und lachen durcheinander. Wir sehen nach, was dort los ist und entdecken eine über den blanken Felsen rennende Affenherde. Bei genauerem Hinsehen erkennen wir, dass vorne weg ein offensichtlich junger Affe rennt, der versucht, den anderen, die ihn verfolgen, zu entkommen. Mit seinen Armen umklammert er einen Plasticksack voll Knabbergebäck, den er wohl einem der Touristen gestohlen haben muss. Der Sack ist ebenso groß wie er, und da er ihn um nichts in der Welt loslassen möchte, muss er beim Laufen unglaublich lustige Bewegungen und Verrenkungen vollführen. Dadurch allerdings wird er bald von den anderen Affen eingeholt. Sie stürzen sich auf ihn, der arme Verfolgte verschwindet unter einem Haufen Artgenossen, aus dem in alle Richtungen Knabbergebäck davon fliegt. Die langsameren der Verfolger stürzen sich sofort auf die herumfliegende Beute, wobei es zu weiteren kleinen Scharmützeln kommt. Nach einiger Zeit erkennen auch die Bausteine des Affenbergs, dass das begehrte Futter bereits überall in der Gegend herum liegt und entwirren sich. Zuletzt bleibt ein völlig zerzauster, kleiner Affe übrig – wohl der ursprüngliche Dieb der Knabbereien – der ängstlich um sich blickend das Weite sucht, nicht ohne sich dabei noch schnell ein paar Leckereien in den Mund zu stopfen. Die Touristenmenge und wir sind begeistert und biegen uns vor Lachen über die zirkushafte Vorstellung.

Die Hauptstraße von Mammalapuram (via greetingsfromindia.jimdo.com)

Da wir schön langsam Hunger bekommen, gehen Hans und ich zurück in den Ort hinunter. Am Fuße des Hügels sehen wir eine kleine Gruppe Männer und Burschen mit einer Kuh. Sie führen die Kuh auf ein schattiges Plätzchen zwischen ein paar dicht beieinander stehenden Bäumen, die ein dichtes Blätterdach darüber spannen. Irgendwie erweckt die kleine Prozession unsere Aufmerksamkeit und wir setzen uns auf einen nahen Felsen und schauen dem Treiben zu. Die Kuh trägt ein Halfter mit einem Strick daran. Mit diesem wird sie an einen der Bäume gebunden. Zwei der Männer schreien die Kuh für uns unverständlich an während sie einer davon etwas mit einem Bambusstock traktiert. Die Kuh legt sich daraufhin auf den Boden. Nun helfen alle Männer und Burschen mit, sie auf die Seite zu drehen, dabei darum bemüht, nicht ihren Hörnern in die Quere zu kommen, da die Kuh das verständlicherweise nicht sehr angenehm findet, schnaubt und unwirsch den Kopf beutelt. Einer der Männer kniet sich nun neben das Tier, schnappt sich ihre Beine und bindet sie mit einem dicken Strick zusammen. Nun ist das Tier hilflos am Boden gefesselt. Hans und ich wundern uns, was das soll und warten gespannt der Dinge, die da kommen. Der Mann, der die Kuh gefesselt hat, legt nun ein Stofftuch neben sich auf den Boden. Er schlägt es auseinander und ein Haufen Metall kommt zum Vorschein. Einer der jungen stellt eine Holzkiste daneben. Der Mann nimmt eine Feile aus der Werkzeugkiste, schnappt sich einen Huf der Kuh, begutachtet ihn kurz und beginnt daran herum zu feilen. Anschließend nimmt er ein mondsichelförmiges, flaches Metallstück vom Tuch, hält es an den Huf und beginnt auf einem vom Jungen bereit gestellten kleinen Amboss mit einem Hammer darauf herum zu hämmern. Dieses Prozedere wiederholt er mehrmals. Schließlich begutachtet er das Metallstück genau, scheint mit seiner Arbeit zufrieden und legt es beiseite. Aus der Werkzeugkiste fördert er einige primitiv geschmiedete Nägel zutage und legt sie neben das Metall. Nun nimmt er dieses in die Hand, steckt sich ein paar Nägel zwischen die Lippen und beginnt der Kuh die Metallplatte an den Huf zu nageln. Der Typ beschlägt die Kuh! Hans und ich wissen, dass Pferde beschlagen werden, aber dass man dies auch mit Kühen machen kann, ist uns bisher nicht klar gewesen. Bei genauerer Reflexion des Gesehenen wird uns klar, dass wir in den letzten Tagen immer wieder Kühe als Arbeitstiere auf den Feldern gesehen haben. Insofern macht es natürlich Sinn, dass dieser Mann seine Kuh beschlägt. Fasziniert beobachten wir, wie der Hufschmied einen Huf der Kuh nach dem anderen derartig bearbeitet, bis sie schließlich an allen acht Hufeisen montiert hat.

Nachdem die Kuh die Prozedur überstanden hat, wird sie aus ihrer misslichen Lage befreit und durch ein paar freundliche Klapse und nett klingende Worte dazu ermuntert, aufzustehen. Vorsichtig erhebt sie sich und steht zunächst scheinbar etwas verdutzt da. Einer der Jungen überreicht ihr ein paar frische Bananenblätter als Belohnung, welche sie mit großer Begeisterung verschlingt. Sie wird losgebunden und macht ein paar erste noch etwas schlaksig wirkende Schritte. Der Hufschmied packt sein Werkzeug zusammen und so plötzlich, wie die kleine Prozession aufgetaucht ist, macht sie sich wieder auf den Weg. Hans und ich sind beeindruckt über das Gesehene. „Jetzt aber rasch was reinschaufeln“, meint Hans, „so viel Live-Kino den ganzen Tag macht hungrig! Ich könnt einen ganzen Schwarm Fisch verdrücken!“

Glossar:

  • Carrom: indisches quasi Nationalspiel, eine Art mit Fingern auf einem quadratischen Holzbrett zu spielendes Billard.
  • Chillum: eine Art Pfeife, um Marihuana zu rauchen
  • Gold Flake: indische Zigarettenmarke
  • Kingfisher: indische Biermarke (http://unitedbreweries.com/our-brands)
  • Sari: typisches indisches Frauengewand, eine Art Wickelkleid
  • Shiva: eine der drei hinduistischen Hauptgottheiten

Ich heiße Wolfram, aber meine Freunde nennen mich Wolli. Im Jahr 2000 reiste ich das erste Mal nach Indien. Mein treuer Reisepartner war mein bester Freund Hans. Gemeinsam entflohen wir einer tiefgreifenden Existenzkrise, die uns damals in Österreich erfasst hatte. Es war meine erste große Auslandsreise, die mich über die Grenzen Europas hinaus brachte. Als solche war der Trip für mich eine unglaubliche Horizonterweiterung und Bereicherung, der eine bis heute andauernde Liebe zu diesem Land, in dem es nichts gibt, was es nicht gibt, entfachte. Hiermit möchte ich Euch, werte LeserInnen, in Form meines Tagebuches an dieser spannenden und ereignisreichen Reise teilhaben lassen.

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