Teil 15: Rooms on Wheels
22.09.2000 Calangute
Der Mensch, der „Sleeper Coaches“ erfunden beziehungsweise ihnen diesen Namen gegeben hat, war zweifelsohne ein Meister der Ironie – oder auch einfach nur Sadist. Eine Fahrt in Indiens „Rooms on Wheels“ gleicht der längsten Achterbahnfahrt der Welt. In einem „Sleeper Coach“ kann man möglicherweise vieles machen – schlafen gehört jedenfalls nicht dazu. Die Busse bestehen aus zwei Reihen Schlafkojen übereinander zu beiden Seiten des Mittelgangs. Auf der einen Seite sind es etwas breitere Zweierkojen, auf der anderen Einzelkojen. Die Kojen sind durch dünne Trennwände voneinander und durch Vorhänge vom Mittelgang abgetrennt und bieten leicht gepolsterte Liegeplätze – von Matratzen zu sprechen wäre weit übertrieben.
Von außen betrachtet wirken diese Kojen ja fast ein wenig kuschelig einladend, allerdings nur, solange der Bus steht und man sich nicht hineingezwängt hat. Sobald sich das Ungetüm in Bewegung setzt, ist es mit jeglicher Romantik jäh vorbei, da Küssen aufgrund der zu erwartenden, horrenden Zahnarztkosten zur Frage der Liquidität würde.
Indiens Straßen tragen mit ihrem schlechten Erhaltungszustand und Millionen von Schlaglöchern nicht gerade zur Erhöhung des Komforts bei. Vor allem, wenn man wie ich über ein Meter achtzig groß ist. Dann hat man eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Entweder man kugelt sich möglichst klein in Embryonalstellung in der Schlafkoje zusammen, was dazu führt, dass man wie ein verrückt gewordener Gummiball darin herum fliegt und droht, durch den Vorhang in den Mittelgang katapultiert zu werden. Andererseits kann man sich mit Kopf, Händen und Füßen auf der etwa ein Meter sechzig langen Pritsche verkeilen, wodurch man zwar nicht herunter geschleudert wird, dafür aber durch die permanenten Erschütterungen Prellungen oder auch gröbere Verletzungen riskiert. An Schlaf ist jedenfalls nicht zu denken. Hans, der einiges kleiner ist als ich, geht es deswegen noch lange nicht besser. Die Fahrtzeit ist mit 10 Stunden angegeben, schließlich kommen wir nach knapp zwölfeinhalb Stunden in Panaji an.
Bisher habe ich festgestellt, dass Inder nicht gerade eine Ausgeburt an Schnelligkeit sind. Beim Aussteigen aus dem Bus haben es aber alle plötzlich scheinbar sehr eilig. Die Warteschlange, die sich im Mittelgang bildet, drängelt und schubst mich, während ich meine Sachen zusammen packen will. Dabei tut mir nach der schlaflosen, durchgeschüttelten Nacht jeder Knochen meines geschundenen Körpers weh. Zunächst versuche ich, die Drängelei zu ignorieren. Als das nichts hilft, werfe ich dem kleinen, dicken Inder mit der speckigen Spiegelglatze, der die Spitze der Schlange hinter mir bildet, einen giftigen Blick zu, der ihn beschämt zu Boden blicken lässt. Doch die Menge drängelt weiter, sodass ich den armen, runden Mann schließlich hilflos aber erbost anschreie: „Do you think I can vanish into air, or what!?! Keep calm, I will leave in a second!“ Er zuckt zusammen und versucht, zurück zu weichen, woran ihn die drängelnde Menge hinter ihm hindert. Trotzdem verschafft er mir so wenige Zentimeter mehr Spielraum, sodass ich meine Sachen beinahe ungehindert zusammen packen und schließlich aussteigen kann. Im Gehen murmle ich noch so laut, dass es der Dicke hinter mir hören musst, „Those idiots…..!“ und verlasse den Bus. Als ich sehe, dass der Inder, der soeben unverschuldet Opfer meiner verbalen Aggression geworden ist, sich im Gehen mit einem Taschentuch die Schweißperlen von der Stirn wischt, tut er mir fast ein bisschen leid.
Hans erwartet mich vor dem Bus breit grinsend: „Gut, dass DU grad ausgezuckt bist. Ich wär‘s etwa drei Sekunden später.“
„Ja bist du deppat, ham die einen Stress gehabt. So hab ich die noch nie erlebt“, entweicht mein letzter aufgestauter Druck verbal in einem tiefen Seufzer.
„Wahrscheinlich waren sie alle super ausgeschlafen, weil sie den Nachtbuswahnsinn gewohnt sind und deswegen so übermäßig agil“,hat Hans auch schon eine Erklärung parat, „sollen wir was frühstücken?“
Da uns noch Jause von der Busfahrt übrig geblieben ist, beschließen wir, sofort an den Strand zu fahren und dort alles weitere zu besprechen. Während der Fahrt können wir ja etwas frühstücken. Hans erklärt sich bereit, einen Bus dorthin zu erkunden, während ich unsere Rucksäcke entgegen nehme, die noch vom Busdach abgeladen werden.
Kurz darauf sitzen wir in einem Kleinbus nach Calangute Beach, wohin die Fahrt nur eine dreiviertel Stunde dauert. Meine Laune bessert sich abrupt, als die mit Abstand schönste Inderin (und diese sind mir bisher nicht gerade als hässlich aufgefallen), die ich bis jetzt gesehen habe, in den Bus einsteigt – nein – in diesen schwebt. Ihr schwarzes dichtes Haar ist zu einem langen Zopf geflochten. Aus ihrer göttlich anmutenden Physiognomie funkeln strahlend aber schüchtern große, schwarze Augen. Ihre Wangenknochen sitzen hoch und als ihr ein zartes Lächeln entkommt, bilden sich darunter leichte Grübchen. An ihrer schmalen Nase prangt ein silberner Blumenstecker mit einem winzigen Edelstein. Sie trägt einen grün-violetten Sari mit goldenen Stickereien, der sie wie ein Schleier umweht. Ihren schlanken Hals schmücken mehrere zarte Silberketten, ihre Handgelenke zahlreiche leise klimpernde, bunte Armreifen.
Ihre Schönheit ist atemberaubend und tatsächlich bleibt mir kurz die Luft weg, als sie auf mich zukommt und den letzten freien Platz direkt neben mir einnimmt. In ihren Zopf sind zahlreiche weiße Jasminblüten eingeflochten, die betörend süß duften. Ihr Haar glänzt und duftet nach Kokos. Ausgerechnet sie will – als eine der ersten Personen in diesem Land – nicht von mir wissen, wie ich heiße, wo ich herkomme, was ich arbeite und ob ich verheiratet bin.
So sitze ich eingezwängt zwischen dieser hinduistischen Göttin und einem jungen, schwarzgelockten Burschen, der eine Baseballkappe und eine goldgerahmte, verspiegelte Sonnenbrille trägt auf der hintersten Sitzbank des Busses, als dieser sich in Bewegung setzt. Meer, ich komme! An das geplante Frühstück ist jedoch nicht zu denken. Einerseits habe ich in etwa den Bewegungsspielraum einer eingelegten Ölsardine, andererseits ruckelt und zuckelt der Bus, dass ich ohne meine Sitznachbarn als seitliche Stützen vermutlich von der Bank geplumpst wäre. Außerdem steht im Mittelgang direkt vor meinem Rucksack ein geflochtener Korb mit Deckel, aus dem es kontinuierlich gackert. Hin und wieder hebt sich der Deckel und ein Huhn versucht seinem Gefängnis zu entfliehen. Der in der Reihe vor mir sitzende Besitzer des Korbs beendet jeden dieser Fluchtversuche mit einer seelenruhigen, auf den Deckel drückenden Handbewegung, während er ununterbrochen auf irgendetwas herum kaut. Meine Blicke streifen abwechselnd von dieser lustigen Szene zur schönen Frau zu meiner linken, dem coolen Burschen zu meiner rechten und der vorm Busfenster vorbei ziehenden Landschaft – riesige, grün beblätterte Bäume, Palmen und dazwischen kleine Lehmhütten und ziegelgedeckte Häuser im portugiesischen Kolonialstil.
Irgendwann reißt mich der Schaffner aus meiner Faszination und will von mir wissen, wohin ich fahre. „Calangute Beach!“, teile ich ihm mit. Das Ticket kostet 8 Rupien. Ich habe mich noch nicht zu Ende über den Fahrpreis gewundert, da ertönt abermals seine Stimme, die über die Menge der Passagiere hinweg ruft: „Calangute Beach!“. Endlich am Meer!
Ich zwänge mich von der Sitzbank, nehme meinen Rucksack und versuche nicht auf den Hühnerkorb zu fallen, während ich mich langsam zum Ausstieg vortaste. Als ich den Bus verlassen habe, steht Hans schon am Straßenrand und grinst. Wir blicken uns um und finden uns an einer staubigen Dorfstraße wieder. Es herrscht reges Treiben. Kleinbusse bleiben stehen, nehmen zahlreich Menschen von der Straße auf und geben sie ihr zurück. Rikschas kurven hupend zwischen ihnen herum. Händler bieten ihre Waren feil. Eine Ziege steht wiederkäuend neben einem Berg von Müll. Kinder spielen mit einem Ball. Eine Frau im bunten Sari trägt eine große Metallschüssel gefüllt mit Ziegelsteinen auf dem Kopf. Streunende Hunde flüchten vor einem nach ihnen geworfenen Stein. Es herrscht ein lautes, kunterbuntes Durcheinander aus dem mich plötzlich eine Stimme fragt: „Rrickshaw?“ „No, beach!“, antworte ich ganz spontan dem uniformierten Rickschafahrer, der vor mir steht, „where´s the beach?“ „Over therre, I brring yu.“, lautet die von mir bereits irgendwie vorhergesehene Antwort. „No thank you, I prefer walking“, entgegne ich und versuche, dabei so freundlich wie möglich zu bleiben. Überraschenderweise insistiert der Rickschafahrer nicht auf unserer Beförderung, sondern erklärt uns freundlich lächelnd: „Okay, it´s over therre not farr“, wobei er mit dem Finger in eine Richtung deutet, ehe er sich wieder seinem Gefährt zuwendet.
Hans und ich gehen also eine staubige Erdstraße entlang, die von niedrigen Steinmauern gesäumt ist, hinter denen gepflegte Gärten liegen. Siehe da, nach wenigen hundert Metern endet die Straße direkt an einem Sandstrand, der in beide Richtungen schier endlos zu verlaufen scheint. Feinster gelber Sand an den rauschend die Wellen des Arabischen Meers branden. Wie koordiniert bleiben wir stehen, sehen uns an und brechen gleichzeitig in einen Jubelschrei aus. Endlich am Meer!
Wir werfen unsere Rucksäcke auf den Strand, legen unsere Handtücher aus, ziehen Badehosen an und setzen uns in den Sand. Genussvoll wühle ich mit den Füßen im feinen Pulver und lasse die winzigen, warmen Körner zwischen meinen Zehen durchrieseln. Einige Minuten starre ich einfach auf die Wellen und verharre so.
Auf einmal, wie auf Kommando, springen Hans und ich auf, laufen juchzend und lachend zum Wasser und stürzen uns in die Fluten. Nach dem ersten heiß ersehnten Bad kommen wir auch endlich zu unserem Frühstück.
Den Rest des Tages verbringen wir planschend, schwimmend, lesend, schlafend, Karten spielend und einfach seiend am Meer. Immer wieder kommen Strandverkäufer vorbei, die alle möglichen Waren anbieten. Mit manchen kommen wir nett ins Gespräch, manche sind etwas lästig und einige haben sogar Dinge dabei, die uns willkommen sind – Kokosnüsse, Wassermelonen, Haschisch. Wir erleben einen wunderschönen Sonnenuntergang als ich bemerke, dass ich eigentlich bereits wieder einen großen Hunger habe. „Lass uns ein Quartier suchen und was Essen, bevor es dunkel wird“, sage ich zu Hans.
Wir packen zusammen, schultern unser Gepäck und spazieren den Strand entlang. Am Beginn einer der schmalen Straßen, die vom Strand weg führen, sehen wir ein nett bemaltes Schild, das zu einem „NV Guest House“ weist. Wir folgen der Straße und nach wenigen Metern steht linker Hand ein nettes Haus im portugiesischen Kolonialstil. Ein weiteres gemaltes Schild weist uns den Weg in den von Gummibäumen und blühenden Sträuchern gesäumten Vorgarten. Eine freundliche Inderin mit schiefen Zähnen und blitzblauen Plüsch-Flip-Flops begrüßt uns herzlich, und es stellt sich heraus, dass ein Zimmer für uns frei ist. Dieses erweist sich als sauber und gemütlich mit einer Terrasse, von der aus man das Meer zwar nicht direkt sehen, sehr wohl aber sein Rauschen vernehmen kann. Priya, die Besitzerin des Hauses mit den lustigen Schlapfen, empfiehlt uns ein nahe gelegenes Restaurant, in dem wir köstlich zu Abend essen. Das Essen beenden wir mit einem Feni, den wir auf der Speisekarte entdecken. Hier ist er im Gegensatz zum Kokosfeni Keralas jedoch aus Cashewkernen. Wie wir in Ullal Beach gelernt haben, bestellen wir 7Up dazu und überraschenderweise schmeckt das Zeug diesmal bedeutend besser als dort. Ein würdiger Abschluss für einen wunderbaren Badetag!
Glossar:
- Feni – Typisch südindischer Schnaps, je nach Herkunft aus Kokosnuss, Cashewkernen oder der Frucht der Palmyrapalme gebrannt
- Panaji – Hauptstadt des südindischen Bundesstaats Goa
- Rikscha – Kleintaxi für 2 bis 3 Personen. Es gibt Rikschas, die von Hand gezogen werden, Fahrradrickschas oder dreirädrige Rickschas mit Zweitakt-Ottomotor.
- Rupie – Indische Währung, 1€ entsprach im Jahr 2000 etwa 50 indischen Rupien
- Sari – Typisches indisches Wickelgewand für Frauen