Samstag, April 20, 2024
Diary

Wolli im Wunderland. Tagebuch einer Indienreise #1

Ich heiße Wolfram, aber meine Freunde nennen mich Wolli. Im Jahr 2000 reiste ich das erste Mal nach Indien. Mein treuer Reisepartner war mein bester Freund Hans. Gemeinsam entflohen wir einer tiefgreifenden Existenzkrise, die uns damals in Österreich erfasst hatte. Es war meine erste große Auslandsreise, die mich über die Grenzen Europas hinaus brachte. Als solche war der Trip für mich eine unglaubliche Horizonterweiterung und Bereicherung, der eine bis heute andauernde Liebe zu diesem Land, in dem es nichts gibt, was es nicht gibt, entfachte. Hiermit möchte ich Euch, werte LeserInnen, in Form meines Tagebuches an dieser spannenden und ereignisreichen Reise teilhaben lassen.

Teil 1: Ich war in Indien!

03.09.2000

Die Flucht war gelungen. Die Flucht vor dem Umstand, dass eine rechtspopulistische Partei von einem selbstverliebten Egomanen dazu auserkoren worden war, nun unser Heimatland mitregieren zu dürfen, was natürlich ein angsterfülltes, engstirniges Wahlvolk erst ermöglicht hatte. Die Flucht vor der Orientierungslosigkeit nach einem Studienabbruch, der mit der Erkenntnis einherging, dass ich nicht gewillt war, im späteren Arbeitsleben meine Seele für den wirtschaftlichen Erfolg zu verkaufen. Die Flucht vor einer gescheiterten Beziehung, die ein großes Loch in mein persönliches Selbstverständnis gerissen hatte. Flucht also vor multipler Desillusion, die drohte sich in eine handfeste Resignation auszuwachsen. Flucht vor Unsicherheit, Planlosigkeit und Hoffnungslosigkeit. Doch keine Flucht vor mir selbst. Im Gegenteil: eine Reise, um zu mir selbst zurückzufinden. Das sollten die nächsten Monate werden.

Unter uns musste Chennai liegen. Chennai, das offiziell bis 1996 Madras geheißen hatte. Seine Namensänderung war nicht nur, wie bei vielen anderen indischen Städten, der späten nationalen Emanzipation vom britischen Kolonialerbe geschuldet. Die Stadt hat tatsächlich über hunderte Jahre zwei parallel in Gebrauch befindliche tamilische Namen getragen, weswegen auch heute noch beide in den Straßen der Stadt zu hören sind. Es musste dort unter uns liegen, es war zu spüren, mir schien sogar, es war bereits zu riechen, was natürlich unmöglich war, denn indische Städte scheint man nicht zu riechen, man riecht sie intensiv und real mit der ganzen Intensität ihrer olfaktorischen Ausdünstungen. Sehen konnte ich es freilich nicht, denn rund um unseren Flieger herrschte noch pechschwarze Nacht. Irgendwann tauchten vereinzelt Lichter unter uns auf, die mehr wurden, je tiefer wir flogen. Schließlich konnte man mehrere Ansiedlungen ausmachen, später auch Straßen und urplötzlich die grell schimmernden Positionslichter eines Flughafens. Schon setzte die Maschine auf. Indien wir kommen!

Der Flughafen von Chennai (via Wikimedia Commons)
Der Flughafen von Chennai (via Wikimedia Commons)

Über die Gangway kamen wir in das Flughafengebäude, das eher wirkte wie ein Provinzflughafen in der DDR als der Airport einer Stadt mit 4 Millionen Einwohnern: Weiße Kassettendecken, in die viele fehlende Module ein unregelmäßiges Schachbrettmuster zeichneten, kalte Neonbeleuchtung, kahle Gänge mit schmutzig-weißen Wänden. Nur die Klimaanlage funktionierte einwandfrei. Mich fröstelte während ich in der Schlange zur Einreisekontrolle stand. Am Schalter saß ein schwarzhaariger, schnauzbärtiger junger Mann in blauer Uniform, der mich im typisch indischen Englisch begrüßte: “Hello Sörr! Passporrt pliß!” Meine Aufregung stieg mit jeder Sekunde. War ich jetzt schon offiziell in Indien? Oder fing das erst draußen vor dem Flughafen an? Egal, einfach mal weiter in die Gepäckhalle. Dort gab es ganze vier Gepäckbänder. Nach geraumer Zeit kamen unsere Rucksäcke auf einem davon daher. Wir schulterten sie und gingen weiter in die Ankunftshalle, die diesen Namen kaum verdiente: Ein kahler, kühler, großer Raum mit drei Schaltern, an denen man offizielle Taxis für die Fahrt in die Stadt buchen konnte. Das war auch schon alles. Da wir kein Taxi brauchten, gingen wir schnurstracks daran vorbei, auf die gläserne Ausgangstür zu. Man konnte erkennen, dass dahinter in der Zwischenzeit der Tag angebrochen war. Ich steuerte die Tür an. Lautlos glitt sie auf, und damit traf der erste indische Schock, der mich beinahe wieder zurück in die ruhige, kühle Halle warf.

Draußen hatte es gefühlte 35 Grad und eine Luftfeuchte von 95 Prozent. Dazu roch es, doch wonach eigentlich? Eine Mischung aus Feuchtigkeit, Benzin, Fäkalien, Kaffee, Schweiß, aber auch süßen Fruchtnoten und Sommer überforderte meine Geruchssynapsen. Sekundenbruchteile später traf die Geräuschkulisse in meinem Hirn ein: Stimmengewirr, unverständliches Geschrei, Motorengeknatter, Lachen und noch unzählige andere absolut nicht zuzuordnende Geräusche fanden ihren Weg durch meinen Gehörgang in mein Großhirn. Erst jetzt schaltete sich auch mein Sehsinn zu. Vor dem Flughafengebäude standen, nein, tummelten sich hunderte von Menschen, die scheinbar nur von einem Stahlgeländer davon abgehalten wurden, jeden Moment das Flughafengebäude zu stürmen. Sie winkten, sprangen, schrien, lachten und weinten, schwenkten Schilder und nahmen Ankommende in den Arm. Sie waren dunkelhäutig, klein, die Männer scheinbar ausnahmslos mit Schnauzbärten, die Frauen in unglaublich bunte Saris gewickelt. Im Hintergrund ging gerade die Sonne auf, wie eine riesige, noch halb hinter dem Horizont versteckte Orange. Ich war in Indien!