Ich heiße Wolfram, aber meine Freunde nennen mich Wolli. Im Jahr 2000 reiste ich das erste Mal nach Indien. Mein treuer Reisepartner war mein bester Freund Hans. Gemeinsam entflohen wir einer tiefgreifenden Existenzkrise, die uns damals in Österreich erfasst hatte. Es war meine erste große Auslandsreise, die mich über die Grenzen Europas hinaus brachte. Als solche war der Trip für mich eine unglaubliche Horizonterweiterung und Bereicherung, der eine bis heute andauernde Liebe zu diesem Land, in dem es nichts gibt, was es nicht gibt, entfachte. Hiermit möchte ich Euch, werte LeserInnen, in Form meines Tagebuches an dieser spannenden und ereignisreichen Reise teilhaben lassen.
Teil 2: JESUS LOVES YOU!
Doch wie sollten wir in diesem nicht überblickbaren Gewirr jemals John finden? John war unser indischer Feund, der versprochen hatte uns am Flughafen abzuholen. Er ist sozusagen Bankdirektor. Er leitet die Filiale der Indian Overseas Bank in Mamallapuram, einem Ort an der Küste, etwa 50 Kilometer südlich von Chennai gelegen, der das erste Ziel unserer Reise sein sollte. Immer noch schwer überfordert mit der Situation, grinste uns plötzlich Johns Gesicht aus der Menge entgegen: “Hello guyß, how arr yu? Wellcome to India!”, begrüßte er uns freudestrahlend, das dichte schwarze Haar auf der linken Seite streng gescheitelt, Krankenkassenbrille, Schnauzbart und ein schneeweißes, faltenfreies Hemd. John trat aus der Menge heraus. Endlich ein optischer Anhaltspunkt, auf den ich meine Konzentration richten konnte. Er drückte uns beide zur Begrüßung, als wären wir seine eben heimgekehrten, verlorenen Söhne. “You wont a ti?”, fragte er uns wobei ich mir ein Schmunzeln ob seiner lustigen indischen Aussprache des Englischen verkneifen musste.
Ein Tee, ja der würde uns gut tun. Was sonst sollte man in seinen ersten fünf Minuten auf diesem Subkontinent tun als einen Chai zu trinken. Einen Chai trinken, durchatmen, und versuchen die hunderttausend ersten Eindrücke irgendwie einzuordnen. Von Verarbeiten war noch lange keine Rede. John holte einen Gepäcktrolley für unsere Rucksäcke und führte uns zu einem Teestand in der Nähe des Ausgangs. Hinter einem wackeligen Tischchen stand dort ein kleines, altes Männlein mit zerfurchtem Gesicht, der gleichen Krankenkassenbrille wie John, einem ebenso weißen Hemd, und einer Art weißem Wickelrock. Er servierte uns drei rauchend heiße Tees aus einem knallgelben Nestea-Automaten in winzigen Plastikbechern. “Where arr yu frrom? Yu like India?”, fragte er uns, wobei er seinen fast zahnlosen Mund zu einem breiten Lächeln entblößte. Immer noch schwer überfordert, rettete uns John, der dem Chaiwallah scheinbar erklärte, dass wir soeben erst angekommen waren, denn dieser hieß uns freudestrahlend willkommen: “Wellcome to India! Injoy, injoy!” Damit wandte er sich wieder seiner Arbeit zu und bediente den Teeautomat.
Ich nippte an meinem Tee und bekam fast einen Zuckerschock. In dem Plastikbecher von der Größe eines Schnapsglases mussten mindestens drei Stück Zucker versenkt sein. Ich schmeckte nichts außer süß. Erst bei näherer Betrachtung erkannte ich, dass der Tee neben Zucker offensichtlich auch Milch enthielt.
Die Sonne überragte bereits in ihrer gesamten feurigen Pracht die Szenerie, als wir quer über den Parkplatz zu Johns Auto gingen. Am Parkplatz wurde das Tohuwabohu der vor dem Flughafenausgang wartenden Menschenmenge um Fahrzeuge erweitert – jegliche Art von Fahrzeugen. Das Stimmengewirr schlug hier in eine Verkehrslärmkakophonie um. Motoren knatterten und ratterten, wurden gestartet, abgewürgt und heulten unvermutet auf. Von irgendwoher mischte sich Hufgetrappel in die klangliche Offenbarung. Alte, schwarze Taxis mit gelben Dächern, ebenso in schwarz-gelb gehaltene dreirädrige Mini-Taxis, so genannte Rikschas, Mopeds, Motorroller, Fahrräder, Handwagen, Pferdefuhrwerke, PKWs, kleine LKWs und Minivans standen und fuhren scheinbar vollkommen plan- und regellos herum. Dabei waren wir erst am Parkplatz. Über all dem stiegen permanent weiße, graue und schwarze Rauchwolken auf und verbreiteten penetrante, stinkende Abgase.
Kaum hatten wir uns in Bewegung gesetzt wurden wir von einer Horde kleiner, schnauzbärtiger Inder umringt, die alle wild gestikulierend “Taxi, Taxi!” riefen. Einer davon wollte sogleich den Tramperrucksack von meinem Rücken schnappen, was aufgrund des Größenunterschieds aussah, als würde sich ein freches Äffchen daran hochhangeln wollen. Als John unsere fragenden, unsicheren Gesichter sah, lachte er, sprach laut ein paar Worte auf Tamil, worauf sich die Taxlerhorde etwas zurückzog und verstummte, nur um gleich darauf den nächsten „Angriff“ zu starten. “Don´t worry!”, grinste John uns an, “They all want worrk, need moni. I told them yu go with mi.” Obgleich die Taxi-Gang nicht wirklich bedrohlich wirkte, hatten seine Worte einen beruhigenden Effekt auf mich.
Plötzlich tauchte zwischen einer Rikscha, die ohrenbetäubend tuckerte und dichten, blaugrauen Qualm ausstieß und einem Taxi, auf dessen Dach der Fahrer gerade ein orangegelbes Siebzigerjahresofa verzurrte, ein hagerer Mann auf, der auf einem selbstgebastelten Rollbrett saß. Er schob sich mit den Händen geradewegs auf uns zu. Direkt vor mir blieb er stehen, formte mit seinen Händen eine Schale und sah mich treuherzig an, wie ein bettelnder Hund. Ich erkannte, dass er keine Beine hatte. Ich blieb gezwungenermaßen stehen, um nicht auf ihn zu treten, und mit der Situation überfordert war. Glücklicherweise kam mir abermals John zu Hilfe, der ihm eine Münze gab und ihn forsch ansprach, worauf der „Krüppel“, was das erste Wort war, das mir einfiel, kopfschüttelnd weiterrollte.
“This is my carr!”, sagte John immer noch oder schon wieder, ich konnte es nicht sagen, breit grinsend und deutete auf einen weißen Kleinstwagen der Marke “Maruti”, der aussah wie ein japanischer Kleinwagen aus den frühen 1980er-Jahren. Auf der getönten Heckscheibe prangte in großen, goldenen Lettern “JESUS LOVES YOU!”