Sonntag, September 29, 2024
Diary

Wolli im Wunderland. Tagebuch einer Indienreise #8

Teil 8: Eine gigantomanische Kakophonie biblischen Ausmaßes

 

12.09.2000

Der zweite Tag in Chennai und wir wissen bereits, dass wir morgen weiter Richtung Bangalore fahren werden. Chennai ist definitiv kein Ort, um dort zu verweilen. Es ist ein Moloch von Stadt im wahrsten Sinne des Wortes. Chennai ist laut, überbevölkert, chaotisch, schläft nie, es stinkt, ist vermüllt und dreckig. Über 4 Millionen Menschen bewohnen offiziell diese ständig wachsende Pestbeule, die sich langsam und unaufhaltsam von der Küste ins tamilische Hinterland hineinfrisst. Inoffiziell werden es wohl noch einige mehr sein und im gesamten direkten Einzugsgebiet der Stadt dürfte sich zahlenmäßig wohl annähernd ganz Österreich tummeln und versuchen, irgendwie zu überleben. Außer einem permanenten, unendlichen, völlig aus dem Ruder geratenen Chaos hat Chennai genau nichts zu bieten.

Da wir aber erst für Morgen Zugtickets nach Bangalore buchen konnten, sind wir dazu verdammt, den heutigen Tag noch irgendwie in diesem urbanen Monster über die Runden zu bringen. So strolchen wir durch die Stadt und wundern uns andauernd, wie man hier leben kann. Die Straßen sind verstopft mit allem, was sich nur irgendwie fortbewegen kann, gleich ob technischer, menschlicher oder tierischer Natur. Der Gang durch die Straßen gleicht einer olfaktorischen Achterbahnfahrt. Ständig oszillieren die Gerüche von herrlichen Bäckereiwaren und würzigem Essen über Chlor- und Brandgeruch bis hin zu Fäkal- und sonstigen ungustiösen Aromen hin und her. Über all dem liegt ein ständiger Benzindunst, der die Stadt in dauerndem Nebel erscheinen lässt. Die Geräuschkulisse ist da nicht besser: Verkehrslärm, Polizisten, die in sisiphushafter Sinnlosigkeit erfolglos versuchen, ersteren mittels schriller Trillerpfeifen zu übertönen, Menschengeschrei, Tierlaute von all dem Vieh, das die Straßen in seelenruhiger Gleichmütigkeit ebenso selbstverständlich wie all die Zweibeiner bevölkert, Glockengeläut, muslimische Gebete, die aus Lautsprechern an den Minaretten der Moscheen dem ganzen wie ein Fangnetz übergeworfen werden, vereinen sich so zu einer gigantomanischen Kakophonie biblischen Ausmaßes.

Ganz normaler Straßenverkehr in Chennai (via vigneshlexis.wordpress.com)

Plötzlich springt in all dem Tohuwabohu ein kleines, altes, hutzeliges Männchen vor uns auf und ab wie ein indisches Rumpelstilzchen. Ein zerfurchtes, milchkaffebraunes Gesicht von einer Glatze und einem schütteren, grauen Haarkranz sowie einem spitzen Kinn begrenzt, kleine, funkelnde Augen, eine große, knollige Nase und abstehende, faltige Ohren. „Hello guys, where do you come from?“, fragt es uns. Wir werden seiner Gewahr und gehen in eine innerliche Abwehrhaltung über. Verglichen mit den schrägen, teilweise aufdringlichen und nervenden, zwielichtigen Gestalten, von denen man hier in der großen Stadt immer wieder angesprochen wird – die meisten wollen in irgendeiner Weise Geld von dir – sind die zahlreichen Steinmetze in den Straßen Mamallapurams zurückhaltende Schweigemönche. Das Männchen scheint unsere Skepsis wahrzunehmen, streckt uns seine sonnengegerbte Hand entgegen und sagt: „Don´t worry, I am Allen. This city is quite crazy but I am okay.“ Wir schütteln leicht verwirrt seine Hand. Sein Händedruck ist ganz entgegen seinem aktiven, forschen Auftreten so sanft, dass ich Angst habe, ihm mit dem meinen seine knöcherige Hand zu zerdrücken und schnell wieder los lasse. Da er uns immer noch nicht überzeugt sieht, bückt er sich und schiebt das linke Hosenbein seiner schmutziggrünen verschlissenen Leinenhose übers Knie nach oben, sieht uns von unten herauf an und meint: „I am one of YOURS!!! I am Irish! My name is Allen, Allen O’Kelley.“ Mit dem Anblick seines dürren Unterschenkels, der unter dem Hosenbein zum Vorschein kommt, fällt es mir wie Schuppen von den Augen, was er uns hier gerade erzählt. Der Mann ist gar kein Inder! Sein Unterschenkel ist absolut weiß – das reinste Weiß, das mir hier in Indien bisher unter die Augen gekommen ist. Der Mann ist ein Weißer! Ein Europäer. Ein Ire und heißt Allen. Welch eine Wohltat, sich nach über einer Woche hier endlich wieder einmal mit einem Europäer unterhalten zu können. Erst jetzt fällt mir auf, dass sein Englisch den typischen indischen Akzent vermissen lässt.

Allen erzählt uns, Dass er Matrose sei. Er führt uns in ein nahes Restaurant, wo er zu erzählen beginnt. Er erzählt uns von seinen Fahrten über alle Meere, seinen Abenteuern. Als der Kellner kommt, bestellt er Bier für uns drei. Das Lokal schenkt jedoch kein Bier aus und so bestellen Hans und ich einen Chai während Allen einen Kaffee ordert. Gestenreich fährt er in seiner Erzählung fort. Er schildert das Leben in Chennai und seinen Ausführungen entnehmen wir, dass diese Stadt so verrückt zu sein scheint, wie sie uns vorkommt. Als die Getränke gebracht werden, ergreift Allen seinen Kaffee und verschüttet dabei gleich ordentlich davon, weil seine Hand stark zittert, wie uns jetzt auffällt, da er erstmals nicht wild gestikulierend erzählt. Mir schwant, warum er vorher Bier für alle bestellt hatte. Wir erzählen Allen von unseren bisherigen Abenteuern und haben eine Menge Spaß mit ihm, da er uns in vielen unserer Wahrnehmungen, Reaktionen und Emotionen zu verstehen scheint. So wird es eine unterhaltsame Indienlehrstunde mit ihm. Nach einigen Chais und Kaffees drängt Allen plötzlich zum Aufbruch. Er müsse noch wohin. Er kramt eine kleine, lederne Geldbörse aus der Hosentasche, stellt fest, dass sie leer ist und wendet sich an uns: „Damned, got no money with me! Guys, could you pay for my coffee and help me out with some money, please? We can meet later, have some more fun and I´ll repay you.” Fragend schaue ich Hans an, welcher ebenso ratlos zurück schaut. Also zücke ich langsam meine Geldtasche, nicht ohne mich vorher Hans‘ ungeteilter Aufmerksamkeit versichert zu haben. „Well, for sure we can defray your coffe, don´t worry. And for the money, how much have you thought of?” “Just hundred rupees, to buy some things on the way”, entgegnet Allen mit einem hofnungsvollen Zwinkern. “And when will we get it back?”, frage ich ihn. “Guys, let´s meet here again at”, er blickt auf seine für sein schmächtiges Handgelenk viel zu groß wirkende alte Fliegeruhr, „Well, eight o’clock. Than we can go somewhere to drink some beers and have some more fun.” Ich versuche, Hans’ Gedanken zu erraten, doch der scheint damit in für mich unergründlicher Ferne herumzuschweifen. So gebe ich Allen einen Hundert-Rupien-Schein, er verabschiedet sich euphorisch, bekräftigt noch einmal, „Then see you later guys, eight o´clock!“ und verschwindet ebenso plötzlich, wie er vor ein paar Stunden aufgetaucht war, durch das Lokal in den lärmenden Großstadtdschungel hinaus.

Thali (via megsblogged.com)

Hans und ich trinken unseren Chai aus, zahlen und treten hinaus ins grelle Wirrwarr dieses pulsierenden Konglomerats einer Stadt. Da das Chaos dort ungehindert fortschreitet und wir Hunger verspüren, begeben wir uns nur ein paar Straßen weiter in ein kleines, finsteres Lokal, welches beim Anblick eines österreichischen Lebensmittelkontrolleurs auch nur aus der Ferne sofort vor Scham im Boden versunken wäre. Überraschenderweise bekommen wir dort ein sensationell gutes Thali, bestehend aus Reis mit zahlreichen Sambars, Chutneys und Pooris. Ein Kellner im weißen Dhoti und khakifarbenen Hemd geht permanent von Tisch zu Tisch und reicht den Gästen nach, wonach es ihnen beliebt. „All you can eat“ auf indisch quasi. So schlagen wir uns mit diesem ausgezeichneten Mal den Bauch voll, spazieren danach in unsere Unterkunft und verstecken uns dort den Rest des Nachmittags in unserem Zimmer vor dem Wahnsinn des Großstadtmonsters.

Am Abend spazieren wir in das Restaurant, wo wir Allen wieder treffen sollen. Kurz vor acht Uhr sind wir dort und warten bei einem Chai auf ihn. Wir warten bis halb neun Uhr, trinken noch einen Chai und unterhalten uns über all unsere schrägen Erlebnisse der letzten Tage. So verrinnt die Zeit, und als wir uns wieder fragen, ob Allen noch kommen wird – dass hier in Indien grundsätzlich niemand zur ausgemachten Zeit auftaucht, haben wir bereits gelernt – ist es bereits viertel zehn Uhr. Wir entschließen uns, nicht länger auf Allen – oder wie auch immer er heißen mag – zu warten, da dieser vermutlich sowieso nie vorgehabt hatte, uns das Geld zurück zu geben, und es sicherlich bereits längst in Alkohol umgesetzt hat. Alkohol – ein gutes Stichwort am Ende eines weiteren spannenden Tages im indischen Wunderland. Hans und ich suchen noch ein westlich angehauchtes Restaurant, das uns der Lonely Planet empfiehlt, und in dem auch Bier ausgeschenkt wird, essen dort geschmackvolle, scharfe Currys zu Abend und lassen den Tag bei ein paar Flaschen Kingfisher ausklingen.

Glossar:

  • Chai – Tee, üblicher weise mit Milch und sehr viel Zucker zubereitet
  • Chutney – Würzig-scharfe Soße oft mit Gemüse oder Fruchtstücken
  • Dhoti – Traditionelles indisches Männergewand, eine Art Wickelrock
  • Kingfisher –Indische Biermarke
  • Poori ein – Fladenbrot
  • Sambar –  Linsensoße mit Tamarinde, ein alltäglicher Begleiter zu Mahlzeiten
  • Thali – Indisches Gericht aus Reis und mehreren regional unterschiedlichen weiteren Bestandteilen, oft als Tagesmenü in Restaurants angeboten

Ich heiße Wolfram, aber meine Freunde nennen mich Wolli. Im Jahr 2000 reiste ich das erste Mal nach Indien. Mein treuer Reisepartner war mein bester Freund Hans. Gemeinsam entflohen wir einer tiefgreifenden Existenzkrise, die uns damals in Österreich erfasst hatte. Es war meine erste große Auslandsreise, die mich über die Grenzen Europas hinaus brachte. Als solche war der Trip für mich eine unglaubliche Horizonterweiterung und Bereicherung, der eine bis heute andauernde Liebe zu diesem Land, in dem es nichts gibt, was es nicht gibt, entfachte. Hiermit möchte ich Euch, werte LeserInnen, in Form meines Tagebuches an dieser spannenden und ereignisreichen Reise teilhaben lassen.

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