Dienstag, Dezember 10, 2024
Diary

Ist denn das Online-Ich wichtiger als das Genießen der Situation?

Koh Chang sunset

Vor rund zehn Jahren habe ich oft verständnislos den Kopf geschüttelt, wenn sich an touristischen Orten die Türen eines Autobus geöffnet haben, 80 Asiaten aus dem Bus sprangen, wie wahnsinnig herumliefen, fotografierten und filmten, nur um eine Stunde später wieder im Bus zu sitzen und das nächste Ziel anzusteuern. Immerhin muss in einer Woche halb Europa “gesehen” werden.

Mir erschien das immer als eine sehr traurige Art zu reisen. Anstatt sich auf ein Erlebnis, auf einen Ort oder eine Situation einzulassen, geht es um das selbsterstellte Medienartefakt, das natürlich ästhetisch ansprechend sein kann, jedoch meist nur als Beweis dient, irgendwo physisch anwesend gewesen zu sein.

Heute scheint diese Art zu erleben große Teile der westlichen Jugend erfasst zu haben. Mit Handy (und Selfie-Stick) bewaffnet, tummeln sich an vielen schönen Orten junge Menschen, die nur damit beschäftigt scheinen, sich selbst vor Objekten modischer Prestige abzubilden.

Gänzlich verständnislos machten mich im letzten Jahr zwei Konzerte, die ich besuchen durfte. Auf beiden Events waren die meisten Konzertbesucher derart damit beschäftigt zu filmen und zu fotografieren, dass kaum Zeit zum Schauen, Hören oder Tanzen blieb. Nur wenige Junge und ein paar Verrückte Ü30er lachten, tanzten … und wurden hin und wieder angepöbelt, ja nicht die wichtigen Aufnahmen zu stören. (Es filmen ja nur einige hundert Leute.)

Verliert eine Situation für diese Menschen nicht an Wert, wenn sie so sehr mit der Dokumentation einer Veranstaltung oder eines Orts beschäftigt sind? Für mich ist da sogar das Verhalten der fotografiewahnsinnigen Klischeeasiaten nachvollziehbarer. Die, die ich nach ihrer Motivation gefragt habe, sagten mir, sie verfügen nicht über mehr Geld, um ausgiebig zu reisen, und sehen sich ihre Bilder zuhause im Kreis der Familie an.

Bei den vielen jungen Leuten, die so gerne filmen und Fotos machen, scheint es naheliegend zu behaupten, sie tun es zum Füttern ihres Online-Ichs auf Facebook, Instagram, Google+, und wie sie alle heißen. Vielleicht werden die Bilder dann noch mit “Den Moment genießen!” untertitelt.

Koh Chang sunset
„Den Sonnenuntergang genießen“

Auch wenn sich das jetzt sehr kulturpessimistisch liest, will ich dieses Phänomen nicht zu sehr werten. Verstehen kann und muss ich es aber auch nicht. Ich wünschte mir nur manchmal mehr junge Leute, die eine Situation gemeinsam vor Ort teilen (und nicht im Cyberspace). Das bereichert den Moment meist zusätzlich.