Teil 4: Das war’s, ich sterbe!
04.09.2000
Warmer Wind bläst mir gleichmäßig ins Gesicht. Langsam öffne ich die Augen. Der braune Deckenventilator dreht leise surrend direkt über mir unermüdlich seine Runden. Ein erster zaghafter Blick nach links. Neben mir liegt Hans, sanft von einem dünnen Leintuch bedeckt. Dahinter ein paar schmale Fenster und eine etwas geöffnete Türe. Auch durch sie hindurch weht ein leichter Wind und spielt mit dem langen, weißen Store, der wie ein sanftes Gespenst langsam im Luftzug tanzt. Grelles Sonnenlicht dringt durch den Vorhang ins Zimmer. Irgendwie kann ich das alles noch nicht fassen. Wer bin ich? Wo bin ich? Und wie komm ich hier her? Versuchen wir es herauszufinden!
Behutsam stehe ich auf, als könnte der Boden unter meinen Füßen jederzeit nachgeben. Langsam wanke ich zur Balkontüre, schiebe den Store zur Seite und trete in heisse, feuchte Vormittagsluft. Wie spät mag es sein? Vollkommen egal. Ich stehe auf der Terrasse unseres Zimmers im Mammalla Beach Resort. Vor mir ein Hain aus irgendwelchen koniferenartigen Bäumen und irgendwo dahinter rauscht das Meer. Rauscht das Meer!… Plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Indien – Mahabalipuram – Mamalla Beach Resort….verdammt noch mal, es ist wahr! Ich schließe kurz die Augen und nehme ein paar tiefe Atemzüge der warmen, salzigen Luft, die nach Meer duftet. Einer der ersten reinen Gerüche hier, der nicht mit Kloakenaroma vermengt ist. Irgendwo kreischt ein Vogel. Durch den Wald hindurch sieht man den weißgelblichen Sandstrand und die daran gischtende Brandung. Kein Zweifel: ich bin im Paradies!
Hinter mir plötzlich ein krächzendes, nicht sehr gesund klingendes Husten. Hans ist erwacht und betritt durch den Vorhang die beeindruckende Naturbühne: “Megagenial, oder?” “Allerdings! Besser als in all meinen Träumen.” “Morgenzigarette?” “Klar, warum nicht? Bin ja auf Urlaub!” Schweigend, staunend und genießend stehen wir rauchend auf der Terrasse und betrachten die Koniferen, die sich leise knarrend im Wind wiegen. “Vor dem Frühstück ein Morgenschwumm?”, frage ich breit grinsend. “Sowieso, warum nicht?!” kommt die prompte Antwort. Also rein in die Badehose und bloßfüßig aus dem Zimmer, die weiß getünchte Außentreppe hinab in den improvisiert angelegten, erdigen Garten mit die sandigen Wege säumenden großblättrigen dunkelgrünen Büschen. Als wir den Koniferenhain durchqueren erhebt sich über unseren Köpfen laut kreischend ein Schwarm bunter Papageien.
Das letzte Stück zum Meer legen wir auf einem palmengesäumten, gepflasterten Weg zurück. Dann versinken unsere Zehen im warmen, weichen Sand der bei jedem Schritt zwischen ihnen hindurchrieselt. Ich kann es nicht lassen und bewerfe mit meinem Fuß Hans mit Sand, was sich dieser natürlich nicht gefallen läßt. Sofort entsteht ein kindliches Gerangel im Zuge dessen wir uns in die Fluten der Bucht von Bengalen werfen. Die Strömung ist stärker als erwartet. Die erste Welle reisst mir die Füße unter dem Körper weg und lauthals lachend – was in dieser Situation natürlich nicht wirklich indiziert ist – krache ich vornüber in die schäumende Gischt. Sekunden später tauche ich prustend wieder auf. Das Meerwasser ist herrlich warm und sehr salzig. Die ersten Liter davon hatte ich soeben geschluckt. Ich schaue mich um. Zwanzig Meter weiter macht Hans den toten Mann und spuckt genüsslich eine Fontäne Wasser in die Luft. Gerade noch rechtzeitig merke ich den nächsten herannahenden Brecher und stürze mich juchzend hinein. Einige Sekunden Schleudergang. Als ich die Orientierung wieder gewinne und im brusttiefen Wasser aufstehe, kommt auch schon der nächste Wellenkamm auf mich zu. Wieder hinein zur nächsten Runde. So geht es eine Zeit lang dahin, bis der morgendliche Hunger das Kommando ergreift. Ich gehe an Land und werfe mich rücklings in den Sand. Die Sonne brennt auf meinen mit allen Poren jubelnden Körper. Erst jetzt bemerke ich, dass mein linker Ellbogen und das linke Knie aufgeschürft sind, da plötzlich das Meerwasser darin brennt. Bei irgendeinem der Wellenschleudergänge zuvor war ich etwas unsanft in den Meeressand gekracht. Ich lache laut los, einfach so, lache über mich, über das Leben und den unglaublichen Spaß daran. Noch einmal gehe ich zurück ins Meer, um mir den Sand abzuwaschen. Danach schlendern wir gemeinsam schweigend vor Glück zurück zur großen Frühstücksterrasse mitten im Koniferenhain.
Wir setzen uns an einen der vielen freien weißen Plastikgartentische. Nur an einem anderen sitzt ein etwas stärkerer Inder paradoxerweise bei gefühlten 30 Grad im schwarzen Anzug mit einer knallrosa Krawatte, die Augen hinter einer verspiegelten Sonnenbrille versteckt. Vor sich auf dem Tisch der Laptop aufgeklappt, daneben ein fettes Handy, am Boden neben seinem Plastikstuhl ein schwarzer Aktenkoffer. In der Hand eine Tasse aus der Rauch aufsteigt – wahrscheinlich Chai. Neben dem Laptop ein Teller mit Reis und anderen undefinierbaren Dingen. Ein indischer Businessman.
Da gut fünf Minuten, nachdem wir uns gesetzt haben, nichts passiert, rauchen wir einmal eine Zigarette. Kaum haben wir sie angezündet, eilt auch schon ein Kellner in einer khakibraunen Uniform mit einem breiten Grinsen im Gesicht herbei und bringt uns einen Aschenbecher. Wir packen die Gelegenheit beim Schopf und fragen ihn nach Frühstück. “Yu wont brreakfast?”, fragt er uns begeistert. “The buffet is insite! Therre is idli, wada, toast whateverr yu wont. We have chai, coffeee and milk. You want porridge or eggs? I can brring yu! Just tell me all yu nid! Welcome to Mamalla Beach rresorrt! Have a nice day!”
“Was gibt´s?”, fragt mich Hans ziemlich verwirrt. “Ich hab keine Ahnung, aber scheinbar finden wir es drinnen.”, entgegne ich auch nicht gescheiter, “sollen wir mal schauen?” “Warum nicht, also Hunger hätt ich gewaltig!” Wir rauchen unsere Zigarette fertig und gehen in den Speisesaal wo wir einen langen, mit weißen Tischtüchern bedeckten Tisch vorfinden. Darauf stehen silberne Tabletts, Schüsseln, Tassen, Krüge, Edelstahlkasserollen, Teller und noch zig andere Sachen – eine unüberschaubare Fülle. Wir nehmen alles genauer unter die Lupe, werden aber auch nicht wirklich gescheiter. Was wir identifizieren können sind eine große Schüssel voll Reis, ein Riesentablett mit verschiedenstem Obst von dem uns nur Ananas, Bananen, Orangen, Äpfel und Trauben bekannt vorkommen, Kannen mit Chai, Kaffee und heißer Milch, Toastbrot und verschiedene Marmeladen. Daneben gibt es noch heiße kleine scheinbar frittierte Donuts und weiße ´Küchlein´ die aussehen wie flachgedrückte Krapfen – nein, eigentlich mehr wie Miniufos – und zig Schüsseln mit verschiedenfarbigen Soßen. Die kulinarische Pracht wirkt vollendet. Das einzige, was zu unserem Glück fehlt ist – Besteck. Wir entdecken lediglich einige teilweise wild verbogene Teelöffel in einem schmutzigen Glas neben den Getränkekannen. “Äh, und das Essen wir alles mit nem Kaffeelöffel?“ frage ich Hans ungläubig. “Wir sind in Indien, Dödl”, kommt die lächelnde Antwort, “hier isst man mit der Hand.“ “Also nehm ich mir das Zeug auch mit den Fingern?“, frage ich immer noch zweifelnd. “Na probiers halt mal mit dem Mund aufzuklauben und schau was passiert!“, lacht mir Hans ins Gesicht, greift in die große Kasserolle mit den weißen Ufos und befördert zwei davon mit der rechten Hand auf seinen Teller. Wir laden uns einfach einmal planlos auf, was Platz hat. “Wenn ich richtig gehört habe, hat er irgendwas von Eiern und Haferflocken gesagt”, meint Hans zu mir, während er sich einen Donut angelt, “wär auch nicht schlecht. Mit prall gefüllten Tellern kehren wir zu unserem Tisch zurück. Wir holen uns noch jeder eine Tasse Chai und beginnen unser erstes indisches Frühstück. Sicherheitshalber schaue ich noch einmal zum indischen Geschäftsmann hinüber, bevor ich beginne. Er reisst soeben ein Stückchen eines Miniufos ab, tunkt es in eine Soße und führt es mit der Hand in den Mund. Aha, so macht man das! Ich breche auch ein Ufo auseinander, versenke das Stück tief in einer orangen Soße, in der verschiedene scheinbar Gemüsestückchen schwimmen und beiße genussvoll hinein. Sekunden später beginnt sich meine Mundhöhle zu zersetzen. Feuer dringt in meine Nasenhöhlen und weiter in meinen gesamten Schädel. Ich spucke das Ufoteil zurück auf den Teller. Mein gesamter Rachenraum brennt vor höllischer Schärfe, die nun auch die Speiseröhre hinunter gegen den Magen wandert. Ich pruste, schnappe nach Luft und greife zu meiner Rettung nach der Teetasse. Ich nehme einen großen Schluck, pruste abermals und spucke den brennend heißen Tee quer über den Tisch. Das war´s, ich sterbe!
“Hier nimm!” Reißt mich Hans aus meinem Todeskampf und hält mir ein großes Glas Wasser unter die Nase. Ich nehme es und leere es in einem Zug. “Das soll auch helfen”, meint Hans und hält mir eine handvoll Reis hin, die ich dankbar in den Mund schiebe. Langsam erlischt das Feuer in meinem Mund und Rachen. Vor Scham gebückt äugle ich zum indischen Geschäftsmann hinüber und versuche durch tränende Augen zu erkennen, wie er auf meinen peinlichen Auftritt reagiert. Er tippt seelenruhig, konzentriert auf seinem Laptop herum, als ob wir gar nicht existierten, und schiebt sich soeben genüsslich noch ein wenig Reis in den Mund. “Boahhhhh, ist das scharf!”, entfährt es mir jetzt, “und die Zunge hab ich mir auch verbrannt. Scheiße!” “Na wenigstens schmeckst dann jetzt nix mehr von der Schärfe!”, lacht mir Hans vollkommen mitleidslos ins Gesicht. “Ha ha, sehr witzig!” Ich trinke noch ein Glas Wasser und beschließe zur Entschleunigung eine Zigarette zu rauchen, bevor ich mich wieder dem Eseen zuwende. In meinem Mund ist derzeit sowieso alles abgetötet. Danach geht es vorsichtiger weiter mit dem kulinarischen Experiment und siehe da, es schmeckt, wenn man es mit der gebotenen Vorsicht genießt, gar nicht schlecht. Wir bestellen uns noch Eierspeis und Porridge, auf freundliche Nachfrage des Kellners mit Früchten, was sich als herrlich süßer weil mit Honig übergossener Haferbrei mit Bananen entpuppt. Nach der ausgiebigen Schlemmerei sitzen wir träge im Schatten der Koniferen auf unseren Plastikstühlen und rauchen zur Verdauung unsere letzten zwei Smart. “Semper et ubique”, denke ich, “ ja genau, Smart, immer und überall, selbst hier an den Gestaden des indischen Ozeans mitten im Paradies”. Über unseren Köpfen vergnügen sich kreischend die Papageien. Vom Meer her hört man wie Hintergrundentspannungsmusik die Wellen an den Strand brechen und es bläst nun eine leichte Brise in der sich die Wipfel der Koniferen sanft wiegen. Der Himmel darüber ist strahlend blau, soweit das Auge reicht. Der Kellner räumt unseren Tisch ab. “Gott, geht´s uns gut! Wir haben es tatsächlich geschafft! Wir sind weg!” “Herrlich! Keine rassistischen Populisten mehr, keine öden Vorlesungen!” “Und keine zickigen Weiber!” “Keine engstirnigen Idioten und keine scheißkalten Regengüsse mitten im Sommer! Kein Österreich und nun vier Monate lang nichts, was uns daran erinnert!” “Willkommen im Garten Eden!” Genussvolles Schweigen, das Rauschen des Meeres, das Säuseln des Windes und auf der Erde zwischen den Bäumen zwei herumtollende Palmenhörnchen.
Plötzlich erklingt Musik. Nein, keine Musik – nicht irgendeine Musik! Es erklingt “Stille Nacht, heilige Nacht”. Es ist Anfang September, hat 30 Grad, wir befinden uns endlich tausende Kilometer weit weg von Österreich und plötzlich ertönt irgendwo “Stille Nacht, heilige Nacht”. Das kann nicht sein! Hans´und mein Blick treffen sich. Ungläubigkeit, Widerwille und Unsicherheit sind darin zu lesen. “Hörst du das auch?”, flüstert Hans. “Ja.”, säusle ich verwirrt zurück. Das Lied schwillt an, als käme es näher. Es ertönt in einem blechernen, elektronischen Ton. Eine musikalische Fassung. Wo verdammt noch einmal kommt das her? Der indische Geschäftsmann zwei Tische weiter nimmt seeleruhig sein Handy vom Tisch, hält es ans Ohr und beginnt uns unverständlich laut hineinzusprechen. Das Weihnachtslied verstummt. Es war sein Klingelton.
Nichts wie weg hier! Das müssen wir erst einmal verdauen. Hans greift nach der leeren Zigarettenpackung, schaut hinein. “Gemma Tschick kaufen. Ich kann jetzt eine gebrauchen.” Glücklicherweise kommt gerade der Kellner auf die Terrasse. “Sir, where can we buy cigarettes?” “In Mamallapuram! Take the rricksha!” Eilig machen wir uns auf den Weg.