Teil 6: Tiger, Krokodile und Indische Selfies
06.09.2000
Jetzt, da wir Johns Enfield haben, wollen wir damit natürlich auch herum fahren. Der heutige Tag führt uns also auf der Küstenstraße 49, der sogenannten East Coast Road, nach Norden. Nach einem ausgiebigen Frühstück mit Idlis, Wadas, Chapathis, Eierspeis, Südfrüchten, Bananenporridge und jeder Menge Chai packen wir unsere Badesachen ein und besteigen das Motorrad. Der Highway 49 führt auf dem schmalen, flachen zwischen Meer und einer Lagune eingezwängten Küstenstreifen, auf dem auch Mamallapuram liegt, der Küste entlang nach Norden bis Chennai. Wir stoppen jedoch bereits nach wenigen Kilometern bei der „Tiger Cave“.
Dies ist ein großer behauener Granitfelsen an dem Tigerköpfe einen kleinen höhlenartigen Hohlraum umrahmen. Es ist eine weitere der vielen Tempelanlagen der Pallavadynastie in der Gegend um Mamallapuram, welche diesen Teil Südindiens vom 3. Bis zum 9. Jahrhundert beherrschte. Heute ist es ein beliebtes Ausflugsziel für die Bewohner Chennais, die hier an Wochenenden in Massen zum Picknicken und Baden her strömen. Die „Tiger Cave“ steht mitten am Strand wenige Meter von der rauschenden Gischt der Bucht von Bengalen entfernt zusammen mit einigen anderen teilweise ebenso behauenen Monolithen inmitten eines lichten Koniferenhains. Wenn man an den Ort kommt, wird seine Attraktion für ein Wochenendpicknick und Bad im Meer schnell ersichtlich. Sanft weht der Wind über den Strand, die Wellen rauschen, Möwen ziehen kreischend über dir ihre Runden, und die überall wie vergessen herumliegenden Felsen geben dem Ort etwas Mystisches.
Wir parken die Enfield am Straßenrand und schlendern eine Weile zwischen den zahlreichen Felsen herum, machen die üblichen Touristenfotos mit der „Tiger Cave“ und beschließen letztendlich einmal ein erfrischendes Bad im Meer zu nehmen, da die Sonne bereits unbarmherzig vom azurblauen Himmel brennt. Wir planschen ein wenig in den Wellen herum, ehe wir uns am Strand von der Sonne trocknen lassen und wieder in unser Gewand schlüpfen. Gerade wollen wir wieder aufbrechen, als plötzlich drei junge indische Männer vor uns stehen und uns ansprechen. Sie alle tragen ein faltenfreies himmelblaues Hemd, eine blendend weiße Bundfaltenhose mit einem schwarzen Ledergürtel mit golden glänzender Schnalle und schwarze, edel wirkende Lackschuhe. Irgendwie schauen sie aus wie eine Mensch gewordene, indische Version von Tick, Trick und Track. Nur der akkurat gestutzte, glänzende Schnauzbart aller drei passt nicht ganz in dieses Bild. Gleichzeitig reden alle drei ohne jegliche Scheu auf uns ein, wollen wissen, wer wir sind, woher wir kommen, was wir arbeiten und ob wir verheiratet sind. Wie uns im Laufe unserer Reise noch klar werden wird, ist dies quasi ein ungeschriebenes Protokoll in Indien. Geduldig beantworten wir ihre Fragen, bis einer plötzlich heraus platzt: „A photo! We can make a photo with yu?“ Hans und ich schauen uns an. “Warum nicht?”, meint Hans mit einem breiten Grinsen zu mir. Also versuchen wir uns irgendwie mit den drei Indern für ein Foto aufzustellen, was kläglich scheitert, bis wir drauf kommen, dass jeder von ihnen alleine ein Foto mit uns zweien haben möchte. Also nehmen wir jeweils einen der drei in die Mitte, oder besser gesagt drängen sie sich dort hin, legen jeweils ihre Arme um uns wie um alte Freunde, und jeder bekommt seinen Schnappschuss mit uns am Strand. Hans und ich sind ehrlicherweise etwas verwirrt über so viel Anhänglichkeit von wildfremden Menschen, doch wir machen freundliche Miene zum eigenartigen Spiel. Nachdem die drei endlich zufriedengestellt scheinen, machen wir uns auf den Weg zur Enfield. Sie folgen uns und halten weiter, nun etwas organisierter als zu Beginn, Konversation mit uns. Plötzlich tauchen wie aus dem Nichts zwei weitere von ihrer Sorte auf im gleichen Outfit und mit ebensolchem Vorzeigeschnauzer. Sie stürzen sich auf uns sobald sie uns erblickt haben und – möchten auch jeder ein Foto mit uns. Wehrlos ob der Überfallartigkeit ihres Erscheinens bekommen auch sie jeder seinen Schnappschuss mit uns. Wir machen uns wieder auf den Weg zum Motorrad, doch mittlerweile scheint sich herumgesprochen zu haben, dass es hier zwei willige weil wehrlose Fotoobjekte gibt, denn soeben taucht der nächste indische Jungmann-Klon von irgendwoher auf, marschiert schnurstracks auf uns zu und fragt ohne Umschweife um ein gemeinsames Foto. Mir drängt sich langsam der Wunsch auf, einfach hier weg zu kommen und wieder meine Ruhe zu haben und Hans‘ Blick entnehme ich, dass es ihm genau so geht. Also wird auch dieser überschwänglich freundliche Inder mit einem Schnappschuss abgefertigt und wir nehmen den Weg Richtung Enfield wieder auf. Die kleine Gruppe Inder begleitet uns nach wie vor auf Schritt und Tritt und möchte alles Mögliche von uns wissen.
Mittlerweile sind wir an einem beeindruckenden, schräg im Sand steckenden Granitfelsen von etwa acht Metern Höhe, fünf Metern Breite und einer Dicke von eineinhalb Metern angekommen. Er sieht aus, als hätte ihn ein Riese dort fallen gelassen und er hat sich dabei in die Erde gebohrt. Wir betrachten ihn staunend, gehen dabei um ihn herum und staunen plötzlich noch mehr. Plötzlich steht vor uns eine Gruppe von 20, 30, 40? – jedenfalls so vielen, dass mir kurz schummrig vor Augen wird – indischer Reserve-Donald-Ducks. Wie ein Schwarm Sardinen bewegen sie sich auf uns zu und haben uns eingekreist, ehe wir wissen, wie uns geschieht. Dabei fuchteln sie alle mit ihren Handys vor unseren Nasen herum. Sie alle wollen ein Foto mit uns – und zwar jeder einzeln! Mittlerweile hochgradig verzweifelt ob unserer Wehrlosigkeit und kurzfristig etwas überfordert mit der neuen Situation, schaffen Hans und ich es schließlich, einen Deal auszuhandeln. Wir machen EIN Foto mit der gesamten Gruppe – nicht mehr. Doch auch das stellt sich als schwieriger heraus, als angenommen. Da alle direkt neben uns stehen wollen, bewegen sich die aus den hinteren Reihen immer weiter nach vorne, wodurch der Fotograf immer weiter zurückweichen muss, bis er schließlich gegen einen Baum stößt, wobei ihm einige der zahlreichen Handys, die ihm zum Fotografieren in die Hand gedrückt worden sind, in den Sand fallen. Doch schließlich legt sich auch dieser Tumult und man schafft es, gefühlte fünfzig Fotos von uns inmitten der Gruppe zu machen. Mit der nun besänftigt scheinenden Horde ergibt sich noch ein Small Talk bei dem wir erfahren, dass es sich um eine Gruppe Marinesoldaten handelt, die heute aus ihrer Kaserne in Chennai einen Ausflug zur „Tiger Cave“ machen.
Hans und ich sind froh, dem Spektakel entkommen zu sein, schaffen es nun doch noch zu unserer Enfield zu gelangen und fahren die East Coast Road weiter Richtung Norden bis zur „Madras Crocodile Bank“. Den staubigen Vorplatz neben der Straße säumen mehrere Essens- und Erfrischungsstände. Zwischen ihnen steht ein kleiner, runzliger Inder mit einem weißen dhoti, einem ausgewaschenen, karierten Hemd, das bis zur Brust aufgeknöpft ist und einem roten Turban. Hinter ihm türmt sich ein Berg großer, grüner Kokosnüsse auf. Gleich daneben ein kleinerer Hügel Schalen aufgeknackter Kokosnüsse. Ein Kokosnussverkäufer. Schon des Öfteren in den letzten Tagen, haben wir solche Verkäufer gesehen und auch das Wasser der Kokosnüsse wurde uns bereits mehrfach angepriesen. Nach unserer Fotosafari bei der „Tiger Cave“ kommen uns eine kleine Pause und eine Erfrischung gerade recht. In wortloser Einigkeit steuern wir den Kokosnusswallah an. „Hello my frriends! How arr yu?“, begrüßt er uns überschwenglich und entblöst dabei zwei Reihen halb verfaulter, grelloranger Zähne, „Want some Coconut?“ Wir bejahen beide, der Wallah nimmt eine Nuss vom Haufen hinter sich in die eine, eine Machete in die andere Hand und mit wenigen, kräftigen Hieben schlägt er ein Loch in die Nuss, steckt einen Strohhalm hinein und überreicht sie mir. „Is good forr you!“, meint er dabei strahlend. Dann macht er die selbe Prozedur mit einer zweiten Nuss für Hans. Wir setzen uns auf einen großen Stein unter einem Tamarindenbaum und genießen unsere erste Kokosnuss. Sie schmeckt süß und intensiv und ist herrlich erfrischend.
Als wir ausgetrunken haben, bringen wir unsere Nüsse dem Wallah zurück. Er nimmt eine nach der anderen, schlägt sie mit ein paar kräftigen Hieben entzwei, hackt ein kleines, flaches, spatelartiges Stück von der Schale ab, steckt es in das weiße Fruchtfleisch und gibt sie uns zurück. Da wir beide recht verdutzt und ratlos dreinschauen, meint er aufmunternd: „Yu must eat the flesh! Is proteins! Makes yu strrong!“, wobei er uns wieder seine abartig orangen Zahnstummel präsentiert. Artig folgen wir seiner Anweisung und beginnen das Fruchtfleisch der Kokosnuss mit dem Spatel auszulöffeln. Obgleich die Farbe und Konsistenz mich entfernt an männliche Körperflüssigkeit erinnern, schmeckt es ausgezeichnet. Als wir dem Wallah die Nüsse ein zweites Mal zurück geben, wirft er sie lässig über die Schulter auf den Haufen Schalen hinter sich. „Yu go visit the crrocodiles?“, fragt er interessiert, „yu must see! Big animals, even dangerrous!” Wir verabschieden uns und statten der „Crocodile Bank“ einen Besuch ab, nachdem wir uns bei einem Stand noch zwei Gold Flake Zigaretten gekauft und sie gemütlich im Schatten der Tamarindenbäume geraucht haben. Die „Crocodile Bank“ ist ein Artenschutzprogramm in dem gefährdete Krokodilarten nachgezüchtet werden. Ein kleiner Krokodilzoo quasi. Beim Eingang weisen einen gemalte Hinweisschilder auf das richtige Verhalten hin. Drinnen tummeln sich in mehreren Gehegen hunderte der Echsen, darunter das angeblich größte lebende Süßwasserkrokodil der Welt mit einer beeindruckenden Länge von über sechs Metern.
Dazwischen krabbeln ein paar Schildkröten herum und in einem kleinen Häuschen kann man beobachten, wie Schlangen ihr Gift für medizinische Zwecke abgezapft wird. Dort stehen in mehreren langen Reihen rostrote, runde mit Tüchern zugedeckte Tontöpfe. Ein Mann mit flinken Händen öffnet einen Topf nach dem anderen, holt mit hilfe eines Steckens eine Schlange heraus, fasst sie direkt hinter dem Kopf und lässt sie in ein mit einer Plastikfolie bespanntes Einmachglas beißen. Fasziniert schauen wir dem Schauspiel eine Zeit lang zu.
Schließlich machen wir uns wieder auf den Weg und fahren mit der Enfield weiter ein Stückchen Richtung Norden. Als die Bebauung und die Müllberge am Straßenrand dichter, der Verkehr chaotischer, die Gerüche abwechslungsreicher und die Menschen auf und neben der Straße langsam zu einer unüberschaubaren Menge werden, wissen wir, dass wir die Vororte von Chennai erreicht haben. Doch das wollen wir uns für die nächsten Tage aufbewahren. So verlassen wir Highway 49, biegen vom Meer weg und überqueren einen bestialisch stinkenden, vermüllten Wasserlauf, um auf direktem Weg auf dem Highway 49a nun auf der dem Meer abgewandten Seite der Lagune zwischen Reisfeldern, Granithügeln, Kokosplantagen, Brachland, Nutzierherden, Dörfern, kleinen Farmen und Tempeln nach Mamallapuram zurück zu fahren. Als wir in den Ort einfahren, erinnert uns ein köstlicher Duft nach Curry, dass wir seit dem Frühstück nichts außer einer Kokosnuss und einem kleinen, undefinierbaren Snack an einem Stand am Straßenrand während der Rückfahrt zu uns genommen haben und werden uns unseres Mordshungers bewusst. Wir gehen also in eines der Strandrestaurants und sättigen uns mit einem unbeschreiblich scharfen Fischcurry und einem Mangolassi. Da es danach bereits dunkel ist und wir erschöpft von diesem langen, ereignisreichen Tag sind kehren wir bald zurück ins Resort, wo ich nach einem gemütlichen Gute-Nacht-Joint auf der Terrasse alsbald in einen tiefen, traumlosen Schlaf falle.
Glossar:
- Chapathi – Fladenbrot
- Curry – Leitet sich vom indischen Wort “kari” für Soße ab und bezeichnet eintopfartige, reichlich gewürzte Gerichte
- Dhoti – tradtionelles indisches Männergewand, eine Art Wickelrock
- Idli – gedämpftes Reisküchlein
- Lassi – Trinkjoghurt, wird salzig oder süß mit Früchten zubereitet
- Wada – frittierter Linsendonut
- Wallah – Händler, Verkäufer