Dienstag, April 23, 2024
Features

Double Trouble

Was für eine Ehre das erste Trift Feature zu schreiben. Viele interessante Themen kreisen im Äther des Trift und eine Entscheidung wurde getroffen. Ich konnte nicht umhin ein fotografie-lastiges Thema aufzugreifen, vor allem, weil es mich schon seit letztem Jahr nicht mehr los lässt. Die Theorie der Fotografie umfasst ja alle möglichen Themen; ich werde versuchen über eines zu schreiben, das mehrere der klassischen Themen wie Zufall, Zeit und Perspektive vereint: Double Shots! Zum einen eine lustige Spielerei, zum anderen können dadurch gewisse Einsichten und Wahrheiten ans Tageslicht kommen.

20140203_feature001_schottland10Double Shots, beziehungsweise die Gleichzeitigkeit in der Fotografie, ist ein nicht viel beachtetes Thema, wird aber mit zunehmender Bilderflut immer relevanter. 2014 werden geschätzte 880 Milliarden Fotos aufgenommen werden. Andere Quellen gehen davon aus, dass die Grenze von einer Billion Fotos (1.000 Milliarden = 10¹²) überschritten wird. Eine Billion Fotos ist eine ungeheuer große Zahl. Das entspricht 2.739.726.027 Fotos pro Tag oder 31.710 Fotos pro Sekunde. 31.710 Fotos die praktisch gleichzeitig aufgenommen werden. Das ist eine Überlegung, die ich absolut faszinierend finde. Es macht „Klick“ und plötzlich entsteht in einem Augenblick ein bildhafter Querschnitt durch unglaublich viele Kulturen und Realitäten. Ich finde das ist das Großartige an der Fotografie: Sie ist demokratisch und verbreitet sich mit rasender Geschwindigkeit. Natürlich wird in manchen Kulturkreisen und Gesellschaftsschichten mehr fotografiert als in anderen. Nachdem jedoch ein großer Teil der Menschheit in irgend einer Form eine Kamera besitzt – 2013 gab es 6,8 Milliarden Mobilfunkanschlüsse weltweit und immer mehr Handys haben eine integrierte Kamera – sind wir alle potentielle Fotografen. Was das anbelangt, halte ich es mit Robert Capa: „Die beste Kamera ist die, die man gerade dabei hat.“

Wenn so viel fotografiert wird, dann muss auch noch ein anderer Effekt berücksichtigt werden, als der, dass wir einfach nur mit Bildern überflutet werden. Da kommt die Gleichzeitigkeit ins Spiel. 31.000 Fotos in der Sekunde: Theoretisch betrachtet werden wir ständig fotografiert. Wenn es der Zufall so will auch mehrmals gleichzeitig. Dies kann alternative Perspektiven offenbaren oder auch Tatsachen zum Vorschein bringen, die die abgebildete Situation in ein neues Licht rücken. Etwa eine Situation von einer anderen Seite zeigen, den Fotografen bei der Arbeit darstellen, oder einfach nur das Geschehene rundherum einfangen.

Versuch einer Definition

Es bleibt die Frage einer Definition von Double Shots. Die einfachste wäre ‚gleichzeitig aufgenommene Fotos‘. Aber was heißt schon gleichzeitig? In der Digitalfotografie ist es möglich, über die Metadaten, die Aufnahmezeit auf eine Sekunde genau auszulesen. Doch es bleibt das Problem einer genauen Synchronisation aller Uhrzeiten. In der Analogfotografie ist eine genaue zeitliche Zuordnung mindestens ebenso schwer zu bewältigen. Wenn es nicht möglich ist auf eine synchronisierte Uhrzeit zurückzugreifen, gelten Fotos die im „selben Moment“ aufgenommen wurden, als Double Shots. Ein Moment in einer unbewegten Landschaftsszene dauert länger, als ein Moment in der Sportfotografie. Die Besonderheit von Double Shots kann darin gesehen werden, einen Bezug zwischen zwei oder mehreren Fotos herzustellen, die im selben Augenblick fotografiert wurden.

Ein paar Grafiken zur Veranschaulichung der möglichen Double Shot-Perspektiven:

Schottland

Mein Interesse an Double Shots wurde letztes Jahr in Schottland geweckt. Zwar bin ich, wenn ich unterwegs bin, üblicherweise der Einzige der viel fotografiert, aber ich werde auch hie und da von jemandem begleitet, der diese Leidenschaft mit mir teilt. Wie zum Beispiel von Hayko, mit dem ich letzten Juni für zehn Tage quer durch Schottland gereist bin. Dabei haben wir uns sehr viel Zeit zum Fotografieren genommen. Das hatte den Vorteil, dass es zur Abwechslung auch einige Fotos von der Reise gab, auf denen ich ebenso zu sehen war. Beim regelmäßigen Durchsehen der Bilder ist uns dann schon aufgefallen, dass es auch viele Fotos gibt, auf denen einer von uns gerade beim Fotografieren zu sehen ist. Als wir dann zu Hause die Bilder verglichen und uns die Metadaten ansahen, wurde klar dass wir den Auslöser tatsächlich einige Male im selben Moment durchgedrückt hatten. Plötzlich machte sich eine gewisse Faszination breit; eine zweite Perspektive wurde sichtbar.

Double Scots © Hayko Riemenschneider, Nozomi Nakazawa und Richard Reinalter

Libyen20140203_feature001_YuriKozyrev

Wie faszinierend die Gleichzeitigkeit der Double Shots sein kann, zeigen zwei Fotos, die 2011 in Libyen aufgenommen wurden. Einen Monat nach Ausbruch der Revolution gegen den damaligen Diktator Muammar al-Gaddafi bombardieren Flugzeuge der Armee einen Checkpoint nahe der Küstenstadt Ras Lanuf. Dabei wurden fünf ausländische Journalisten fotografiert als sie vor dem Bombardement flüchteten. Auf dem ersten Foto sind nur die blauen Jeans des russischen Fotografen Yuri Kozyrev zu sehen, der abwartete, um das letzte Foto der fliehenden Rebellen aufzunehmen. Zwei, der fliehenden Fotografen, die Amerikanerin Lynsey Addario (ganz links) und Tyler Hicks (rechts, mit Brillen) wurden vier Tage später von Gaddafi-Anhängern gekidnappt und für eine Woche festgehalten. Kozyrev’s Foto, gewann 2012 den World Press Photo Award for Spot News Singles.

Kalifornien

Einen ganz anderen, konzeptuellen Zugang zum Thema Double Shots, verfolgt der australische Fotograf Jackson Eaton. Auf einem Roadtrip durch Kalifornien entstand 2012 die Serie Chris and Jack do California, in der sich Eaton und sein Freund Chris vor diversen Sehenswürdigkeiten immer gleichzeitig gegenseitig fotografierten. Das Ergebnis sind in Diptychons angeordnete Urlaubsfotos, die einerseits eine bestimmte Situation darstellen und dabei ebenso die Sicht des Porträtierten – also die Perspektive des Models – wiedergeben. Dies schließt so viel über die Situation auf, dass die gegenübergestellten Bilder schon fast wie Panoramen wirken. Der Raum dazwischen, beziehungsweise links und rechts, ist jedoch kaum zu sehen. Der Blick des Models wird zum Blick des Fotografen, die feste Perspektive löst sich dadurch auf. Als ob man einen Blick hinter die Kulisse wirft, wobei schnell klar wird, dass es keine Kulisse gibt.

Chris and Jack do California

Gegenwart

Paul Graham veröffentlichte 2012 mit The Present ein Fotobuch, das Street Photography auf eine neue Ebene hebt. Dabei fotografierte er bei Straßenszenen immer mehrere Frames kurz hintereinander. Damit formt er einen Kontrast zur klassischen Street Photography, in der das Geschehen strikt eingefroren wird. In The Present, sehen wir ein Kontinuum: vorher/nachher, kommen/gehen, entweder/oder. Graham präsentiert uns die Welt in einer Art und Weise, die viel realer ist als ein einzelnes, gefrorenes Bild. Eine Gegenwart, die flüchtig ist, in der es Entscheidungen gibt und sich Situationen organisch weiterentwickeln. Er wendet sich ab vom Konzept des entscheidenden Augenblicks – verschiebt den Fokus – und was zuerst wichtig erschien ist plötzlich in den Hintergrund gerückt oder verschwunden. Die Gegenwart ist aufgelöst. The Present ist mit Sicherheit eines der einflussreichsten Street Photography Bücher der letzten Jahre.

Graham wendet für The Present praktisch das gegenteilige Konzept der Double Shots an. Er überbrückt in seinen Fotos eine Zeitspanne und erinnert uns daran, dass sich die Welt auch nach der fotografierten Situation noch weiter dreht. Double Shots sind in gewisser Weise das perspektivische Equivalent zu Graham’s Straßenfotografien. Durch sie werden wir daran erinnert, dass neben dem Motiv noch eine ganze Welt mit unendlich vielen Realitäten besteht, und dass das Fotografierte nur ein klitzekleiner Auszug daraus ist.

The Present

Bonus: Hit the Road

Eine absolute Sonderform des Double Shot ist Google Streetview. Obwohl Google’s Streetview-Autos bestimmt tausendfach fotografiert werden, und die neunäugige Panoramakamera auch in alle Richtungen „zurückfotografiert“, ist mir bisher erst ein einziger erfolgreicher Double Shot untergekommen (Fotograf leider unbekannt):

20140203_feature001_google_ls

Neue Ufer

Das Prinzip der Double Shots ist zwar kein sonderlich komplexes, scheint sich aber weiter zu entwickeln – vor allem technologisch. Wie mit der iPhone App Frontback, mit der sich Aufnahmen mit der Front-, sowie Backkamera eines iPhones gleichzeitig machen lassen. Eine interessante Mischform, die ich in meinen Grafiken nicht berücksichtigt habe.

Oder zum Beispiel die Konzept-App Glance für Google Glass. Gedacht dafür, dass sich beim Geschlechtsverkehr das Bild des Partners ins eigene Blickfeld übertragen lässt. Man sieht sich also wieder selbst – und das live! Ein etwas narzisstischer Ansatz. Warum sich das Konzept der App auf den Geschlechtsverkehr beschränkt ist mir ebenfalls nicht ganz klar. Es gäbe doch tausende Anwendungsmöglichkeiten. Doch Sex verkauft sich wohl am besten.