Montag, März 18, 2024
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Immer mit der Ruhe

Von der Geschwindigkeit der Eisenbahn, Postschiffen und Pech. Und warum wir uns mehr Zeit fürs Fernsehen nehmen sollten.

 

© The Estate and Foundation of Andy Warhol/VBK, Wien 2009; Foto: © 2009 The Andy Warhol Museum, Pittsburgh, PA, a museum of Carnegie Institute. All rights reserved.
© 2009 The Andy Warhol Museum, Pittsburgh, PA, a museum of Carnegie Institute.

Alles begann mit Andy Warhol. Noch einmal beeindruckt er mich postum und zeigt, dass seine Ideen nicht nur zu Lebzeiten, sondern auch noch einige Zeit nach seinem Tod revolutionär sind. Mit seinem Experimentalfilm Sleep, der den Beat-Poeten John Giorno beim Schlafen zeigt, hat er eine völlig neuartige Ästhetik in die Filmkunst eingeführt. Denn Sleep zeigt John Giornos ganzen Schlaf in 311 Minuten, also guten fünf Stunden.

Als der Film 1964 uraufgeführt wurde polarisierte er aufgrund seiner Handlungsarmut. Tatsächlich zeigt Warhol nichts anderes als einen nackten, schlafenden Mann. Warhol erklärte jedoch, dass er das Ganze „ein bisschen frisiert“ habe, „um eine bessere Linie zu bekommen“. Für den aufmerksamen Betrachter solle sich also keine Langeweile einstellen, denn der Film ist bewusst durch rhythmische Wiederholungen (Loops) von Sequenzen unterlaufen und damit ein Dokument für Warhols sehr entschiedende Vorgehensweise der filmischen Illusionierung und ästhetischen Manipulation von Realität.

Als erster Film überhaupt wurde Sleep in die Tradition der barocken Stillleben-Malerei und des Minimalismus eines John Cage und La Monte Young eingeordnet.

Fallweise wurde Warhols Konzept wiederaufgegriffen. Wie etwa vom US-Sender WPIX, der britischen Firma Video125 oder dem deutschen Bahn TV. Das Unternehmensfernsehen der Deutschen Bahn zeigte exklusiv Eisenbahnthemen und war zunächst nur als Mitarbeiterfernsehen für die Beschäftigten des DB-Konzerns gedacht. Als solches auch nur in einigen Büros, Pausenräumen und Kantinen der Deutschen Bahn AG empfangbar. Anfang 2003 wechselte Bahn TV auf die gebräuchliche Satellitenposition 19,2° Ost. Die Sendung, um die es mir geht, hieß Bahn TV in Fahrt und zeigte Führerstandsmitfahrten. Also Bahnfahrten aus der Sicht des Lokomotivführers in Echtzeit. Stundenlange, manchmal endlos scheinende Fahrten durch deutsche Pampa und Städte. Die Sendung lief immer um Mitternacht und wurde parallel als Download angeboten.

Wirklich modernisiert hat Warhols Konzept erst der Norwegische Rundfunk, kurz NRK. Sakte-tv – norwegisch für langsames TV – wurde sogar zum Wort des Jahres 2013 ernannt. International ist der Begriff Slow-TV verbreitet.

Minutt for minutt

Das TV-Programm Bergensbanen – minutt for minutt wurde am 27. November 2009 auf NRK2 ausgestrahlt und zeigte die Zugreise von Bergen nach Oslo aus der Perspektive des Führerstandes. Das eigentlich Verrückte an der 7-stündigen Dokumentation war, dass sie live übertragen wurde. Obwohl die Bergensbanen durch 182 Tunnel führt, wurde die Übertragung kaum unterbrochen. Während einiger dieser Tunneldurchfahrten wurden Archivaufnahmen aus der 100-jährigen Geschichte der Bergensbanen gezeigt.

Bergensbanen Oslo - Bergen (Wikimedia Commons)
Bergensbanen Oslo – Bergen (Wikimedia Commons)

Die ganze Fahrt – inklusive der Tunneldurchfahrten – ist auf Youtube zu sehen:

Das Event wurde  von durchschnittlich 176.000 Zusehern verfolgt und ganze 1.246.000 Norweger haben zumindest abschnittsweise zugesehen. Die Resonanz auf die Sendung war dermaßen gut, dass NRK im Juni 2010 gleich noch die Flåmsbana und die Stadtbahn Bergen filmte.

 

Hurtigruten Bergen - Kirkenes (Wikimedia Commons)
Hurtigruten Bergen – Kirkenes (Wikimedia Commons)

Ein weiteres Highlight hat NRK mit der Liveübertragung der Hurtigruten, der traditionellen norwegischen Postschifflinie geschaffen. In insgesamt 134 Stunden (5½ Tagen) wurde die gesamte Fahrt von Bergen nach Kirkenes aus der Perspektive der Brücke der MS Nordnorge gesendet. Das Event wurde überdurchschnittlich gut verfolgt. Insgesamt erreichte die Übertragung in Norwegen 2.542.000 Zuseher, was rund der Hälfte der norwegischen Bevölkerung entspricht. Am High Peak waren es sogar 692.000 gleichzeitige Zuseher. Die Social Media Resonanz war ebenfalls hervorragend: Ein Tweet über die Hurtigruten alle sechs Sekunden. Während der Übertragung haben sich einige der Städte, deren Häfen angelaufen wurden, um das feierlichste Willkommens-Kommitee bemüht. Es wurden drei Heiratsanträge während der 134-stündigen Übertragung festgehalten, und der Rekord für die längste Fernseh-Dokumentation markiert. Der alte Rekord lag bei 13 Stunden. Die Eintragung ins Guinness Buch der Rekorde ist momentan noch ausständig.

 

 

Natürlich gibt es auch die Fahrt der MS Nordnorge in voller Länge zu sehen, oder aber als 37-minütiges Time Lapse Video, für diejenigen, die sich keine 5½ Tage Zeit nehmen können:

 

In weitere Folge wurden weitere Sendungen produziert, wie etwa eine 12-stündige Sendung über Feuerholz (inklusive acht ununterbrochenen Stunden einer brennenden Feuerstelle), 18 Stunden über Lachse die flussaufwärts schwimmen, 100 Stunden Schach mit Magnus Carlsen, ein unglaubliches 30-stündiges Interview mit dem Autor Hans Olav Lahlum, oder die gesamte Produktion eines Pullovers aus Schafwolle – angefangen vom Scheren des Schafes über das Spinnen bis zum händischen Stricken – allerdings in Rekordzeit.

Entschleunigung

Andrei Tarkovsky (via sensesofcinema.com)
Andrei Tarkovsky (via sensesofcinema.com)

Die Entschleunigung hat bereits eine lange Geschichte. Ausformungen wie die längsten Filme sind obligat. Unter den Experimentalfilmen führt Modern Times Forever mit einer Laufzeit von 240 Stunden (10 Tage) das Feld an, unter den Kinofilmen steht Resan (The Journey) mit läppischen 14 Stunden und 33 Minuten auf Platz 1 der längsten Filme. Seit einigen Jahren scheint die Entschleunigung einen gewissen Zeitgeist zu treffen, und es tauchen immer mehr Ausformungen des Slow Movements auf.

Ob Cittàslow, Slow ageing, Slow Art, Slow Church, Slow Counseling, Slow Education, Slow Fashion, Slow Food, Slow Gardening, Slow Goods, Slow Media, Slow Money, Slow Parenting, Slow Photography, Slow Science, Slow Technology, Slow Travel,… (die Liste geht weiter): Fast jeder Lebensbereich kann verlangsamt werden. Geschichtlich gesehen begann das Slow Movement mit Carlo Petrini. Dieser protestierte 1986 gegen die Eröffnung eines McDonald’s Restaurant am Piazza di Spagna in Rom. Die Idee dahinter ist allerdings älter und geht mindestens bis ins 19. Jahrhundert zurück, als es in England Tendenzen gab, die Geschwindigkeit von Eisenbahnen auf zehn Kilometer pro Stunde zu limitieren. Die Reflexion über Zeit und Geschwindigkeit ist also von jeher mit der Eisenbahn verbunden. Wie man an den Beispielen von Bahn TV und NKR sieht, hat sich daran bis heute nichts geändert.

Was alle Formen der Verlangsamung vereint, ist die Wertschätzung von Zeit und Ressourcen. Der sowjetische Filmemacher und Mitbegründer des Slow Cinema, Andrei Tarkowski, argumentierte seine Arbeitsweise folgendermaßen: „I think that what a person normally goes to cinema for is time.“

Pech

Das Pechtropfenexperiment (Wikimedia Commons)
Das Pechtropfenexperiment (Wikimedia Commons)

Wem das Slow Cinema und Slow-TV immer noch zu schnell geht, der kann sich mit Pech behelfen. Genauer gesagt mit der Beobachtung des Tropfverhaltens von Pech. 1927 goss Thomas Parnell, Professor an der Universität von Queensland, Australien, erwärmtes Pech in einen unten verschlossenen Trichter und ließ dem Stoff drei Jahre Zeit, sich zu setzen.1930 wurde der Trichter geöffnet und das Pech begann zu fließen. Nach acht Jahren fiel dann endlich der erste Tropfen. Bis heute folgten acht weitere, der letzte im April 2014. Bis zu diesem konnte kein einziger fallender Tropfen beobachtet werden, da zu den jeweiligen Zeitpunkten nie ein Auge auf das Experiment gerichtet war. Zwar wurde in den 1990er Jahren eine Webcam zur Beobachtung installiert, diese versagte allerdings beim Fall des vorletzten Tropfens am 28. November 2000. Ein Livestream ist selbstverständlich verfügbar. Der nächste Tropfen wird schätzungsweise in 14 Jahren fallen…

Also abwarten und Trift lesen!

3 thoughts on “Immer mit der Ruhe
  1. Ich kann mich noch gut erinnern, dass der ORF so etwas bereits Ende der 80er/Anfang der 90er im Programm hatte – eine Zugfahrt von Wien nach IBK (oder Bregenz), live aus dem Führerstand und ungeschnitten. Lief im damaligen FS2 und dauerte fast einen ganzen Sendetag. Keine Ahnung, wie viele Zuschauer das damals hatte, aber ich war einer von ihnen (zumindest teilweise :-)

    1. Traumhaft! Hab gestern gesehen dass die ÖBB eine Führerstandsmitfahrt für zwei Personen verlost… dem Lokführer über die Schulter schauen für die echte ÖBB-Experience :-)

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