Donnerstag, November 21, 2024
Diary

Being Spades oder: Der Mann und seine Groupieband

Ende März wurde ich erstmals Vater. So ein Kind bringt das Leben und den Alltag ganz schön durcheinander. Nichts ist mehr, wie es früher war, alte Gewohnheiten müssen aufgegeben und neue Tagesabläufe einstudiert werden. Die Umkehr eines normalen, humanen Tag-Nacht-Rhythmus war ich auch nicht mehr gewohnt. Ist ja schon ein Weilchen her, dass ich mir schwer pubertierend reihenweise die Nächte um die Ohren schlug.

Ja, und dann die ganzen sozialen Verpflichtungen. Geburtsanzeigen sollen erstellt und versandt werden. Alle wollen den neuen Erdenbürger kennen lernen. Antrittsbesuche bei Großeltern, Tanten, Onkels, Freunden und Bekannten. Irgendwie soll sich dein eigenes Leben nebenher auch noch ausgehen.

Wir fuhren, als unser Spross zweieinhalb Monate alt war, mit ihm nach Tschechien. Ein Geburtstagsgeschenk für meinen Vater. Er ist Sudentendeutscher und bereits zwei Jahre davor hatten wir ihn auf eine Reise zu den Spuren unserer Ahnen eingeladen. Aufgrund einer globalen Pandemie musste die Reise bis heuer warten. Da meine Lebensgefährtin und Mutter unseres Kindes aus der ehemaligen DDR stammt, ihre Eltern bisher weder ihren Enkel noch meine Familie kennen gelernt hatten und außerdem ebenso aus dem Sudetenland stammen, wurde die Reise auch zur „Familienzusammenführung“ genutzt. Wir reisten gemeinsam mit meinen Eltern und meiner Schwester aus Österreich an, ihre Eltern kamen aus Deutschland.

Niemand wusste, wie das ausgehen würde: Babys erste Fernreise, Nostalgiefahrt auf den Spuren der Familiengeschichte und das Zusammentreffen zweier Schwiegerelternpaare.

Wir trafen uns in einem Hotel in Außig an der Elbe, wo wir für alle Zimmer gebucht hatten. Unser Sohn entpuppte sich als unkompliziertes Reisekind. Das erste Zusammentreffen der Familien am Nachmittag verlief vielversprechend. Man verabredete ein gemeinsames Abendessen in einem nahen Lokal.

Anschließend spazierte ich mit Frau und Kind durch das Zentrum, um auch die eigene Familienzeit nicht zu kurz kommen zu lassen. Als wir zum Hotel zurückkamen, saßen im Gastgarten davor drei schräg angezogene Leute. Eine junge Frau und zwei Männer. Ihre Erscheinung erinnerte an die Kelly Family. Trugen sie doch alle alte, verschlissene Kleidung im Farmhousestil. Die zwei Männer hatten Instrumente dabei; einer eine Geige, der andere ein Banjo. Sie unterhielten sich fröhlich und waren jedenfalls ein Blickfang.

Wir gingen aufs Zimmer und machten uns für das Abendessen frisch. Anschließend trafen wir uns alle in der Hotellobby. Als wir so dort sitzen und auf die letzten von unserer bunten Schar warten, kommen plötzlich die drei Musiker aus dem Gastgarten herein und auf uns zu. Die Frau spricht mich an: „Hey, we are Rednex!“

Rednex, Rednex – da war doch was. Mein Speichersystem läuft auf Hochtouren. Das war doch diese schwedische Band aus den 90ern mit, mit – ja genau! – „Cotton Eye Joe“ hieß deren großer Hit. Irgendwann so um die Maturazeit, Sommer, Party und viel Alkohol. Ich kann mich dunkel erinnern. Aber was will Rednex von mir?

Das Konzertplakat

„You look like a member of our band we are still waiting for becaue he’s late“, beantwortet die Dame mit dem lustigen Blumenkleid im Fetzenlook meine Frage. Okay, ich habe ja scheinbar ein Allerweltsgesicht, denn, dass ich jemandem ähnlich sehe, den Menschen, die mit mir sprechen, kennen, wurde mir bereits öfters gesagt. Aber, dass ich Ähnlichkeit mit einem Musiker haben soll, ist neu.

„Could we take a photo with you?“, reißt mich das weibliche Bandmitglied aus meinen Gedanken, „It’s incredible how you look like him!“

Für gewöhnlich fragen ja die Groupies, ob sie Fotos mit ihren Stars machen dürfen. Ich werde grad von einer namhaften Band meiner Jugendzeit gefragt, ob sie Fotos mit mir machen darf. Das Staunen, ob dieser Erkenntnis ist groß – aber, auch okay. Also machen wir Fotos. Schnell sind auch die anwesenden älteren Generationen, denen Rednex kein Begriff ist, informiert, worum es geht, und in der Hotellobby findet ein spontanes Fotoshooting statt. Alle zucken Handys und Kameras, es wird fleißig posiert und in die Linsen gelächelt.

Plötzlich öffnet sich die Eingangstüre und ein Mann mit langen, offenen Haaren, löcherigem Hut, Sonnenbrille und gestreiftem, ausgewaschenen Flanellhemd spaziert in die Lobby. Schnell stellt sich heraus: das ist Spades das fehlende Bandmitglied, dem ich ähneln soll. Tatsächlich ist eine gewisse Ähnlichkeit nicht von der Hand zu weisen. Er wird über sein neu entdecktes Double informiert und unter vielen Ahs und Ohs und Gelächter werden weitere Fotos, nun auch von den beiden Doppelgängern geschossen.

Der echte und der falsche Spades

Jetzt gesellt sich ein weiterer Mann zu uns. Er stellt sich als Geoffrey vor und ist der Tourmanager der Band. Auch ihm wird schnell das Unübersichtliche erklärt: die Ähnlichkeit zwischen mir und Spades. Er grinst, reicht mir einen Künstlerbackstagepass und lädt mich zum heutigen Konzert der Band im Letní Kino ein. Das Konzert beginnt in eineinhalb Stunden. 

Uii, da sollte ich dabei sein, wenn sich unter Beisein meines Babys und dessen Mutter meine Eltern und Schwiegereltern besser kennen lernen, im Restaurant ist dafür reserviert und dann sehe ich aus wie Spades von Rednex. Doch nach kurzer Überlegung ist klar: diese Chance auf ein Revival der 90er-Jahre kann ich mir nicht entgehen lassen. Dass man eine Groupieband hat, passiert einem nur einmal im Leben und den meisten nicht einmal das.

Künstler Backstagepass

Während sich die anderen also fürs Familienessen herrichten, erkundige ich mich, wo das Letní Kino ist. Das Sommerkino ist fußgängig keine zehn Minuten entfernt. Es befindet sich in einem Park auf einem Hügel gleich neben dem Zentrum.

So verlassen die Familienmitglieder kurz darauf das Hotel, um Abend zu essen, und ich, um zum Rednexkonzert zu gehen. Schnell ist der Weg zum Kino gefunden. Dank meines Backstagepasses marschiere ich ungehindert durch alle Sicherheitskontrollen und stehe bald vor den Künstlergarderoben. Ein Konzertplakat verrät mir, dass neben Rednex heute auch noch Masterboy und Mr. President, der gerade auf der Bühne steht, als ich ankomme, performen. Was für ein 90er-Revival!

Ich finde die Garderobe von Rednex, klopfe an und trete ein. Die Freude, dass ich tatsächlich auftauche, scheint ehrlich groß. Als ob es eine andere Option gegeben hätte! Ich werde mit einem Jägermeister aus der Literflasche empfangen. Beim anschließenden Geplaudere stellt sich heraus, dass Rednex ein Musikprojekt ist, das aus zehn bis zwölf Mitgliedern besteht.  Die Standardformation sind eine Frau und drei Männer, sodass bis zu drei Rednexkonzerte gleichzeitig stattfinden können. Meine Groupieband besteht aus Zoe, einer slowakischen Sängerin, den Deutschen Spades und Cash sowie Pervis the Palergator, der in Wahrheit Wiener ist. So what! Wer hätte das gedacht?

Ich verfolge die letzten Auftrittsvorbereitungen Geoffreys mit der Band, lasse mir währenddessen von einer netten jungen Frau vom Veranstalterteam ein Bier bringen und labe mich am in der Künstlergarderobe bereitgestellten Buffet an Tramezzini, Mehlspeisen und frischem Obst. Alsbald heißt es, dass es mit dem Konzert los geht. Cash reicht mir noch ein ausgewaschenes Holzhackerhemd, welches ich schnell überwerfe, und schon laufe ich gemeinsam mit Rednex Richtung Bühne. Geoffrey nimmt an den Turntables Platz, denn die Musik kommt heute, partytauglich remixed, aus der Konserve. Zoe, Spades, Cash and Pelvis the Palergator stürmen die Bühne, lassen die Fetzen fliegen und singen – das gar nicht schlecht – mal einer alleine, mal mehrere oder alle zusammen und sorgen dabei ordentlich für Stimmung. Das Publikum ist begeistert und ich, der direkt neben der Bühne steht und ins feiernde Publikum schaut, auch.

Wolli Tanzbär

Bei so viel Partyspaß kann ich nicht lange stillstehen und bald erwacht der Tanzbär in mir. Rednex liefern einen Hit nach dem anderen ab und tatsächlich kann ich mich vom Klang her an alle erinnern. Die waren schon jemand in den 90ern!

Bei Wish you were here leuchtet mir ein Lichtermeer aus Handys entgegen und gleich darauf kommt der Höhepunkt. Zu den ersten Klängen von Cotton Eye Joe deutet mir Geoffrey auf die Bühne zu kommen und nun gibt es wirklich kein Halten mehr. Aus dem gegenüberliegenden -VIP-Backstagebereich stürmen nun auch zahlreiche topgestylte junge Frauen die Bühne und alle tanzen zusammen, was das Zeug hält. Kurz frage ich mich, was die Frauen wohl so für ihren VIP-Pass gezahlt haben mögen?

Als das Konzert schließlich nach der dritten Cotton Eye Joe Zugabe zu Ende ist, bin ich schweißgebadet aber glücklich. So ausgelassen habe ich mir die Familienzusammenführung wahrlich nicht vorgestellt. Beim parallelen Familienessen wird es wohl kaum so stürmisch zugehen.

Nach dem Konzert geht es zum Autogramm- und Fototermin mit dem Publikum. Brav stellen sich die Leute an, um Fotos mit ihren Stars zu machen. Cash gibt mir sein Handy und bittet mich, damit auch Fotos von ihnen zu machen. Als ich ihm das Handy zurückgebe, zieht er mich zu sich heran und von da an bin ich auch auf den Fanfotos des heutigen Abends. Ob es wohl irgendjemand aufgefallen ist, dass Rednex nun plötzlich aus fünf Mitgliedern besteht? Die Schlange an Fans scheint kein Ende zu nehmen und irgendwann fragt mich Spades: “Hey, magst du weiter machen? Ich hab schon einen Durst!“

Wolli als Fan

Kurz darauf reicht ein Jugendlicher Cash seine Trainingsjacke und einen Permanent Marker für ein Autogramm. Cash unterschreibt darauf und reicht sie grinsend an mich weiter. Nach einer kurzen Schrecksekunde nehme ich die Jacke und den Marker und male ein improvisiertes „Spades“ darauf, bevor ich sie an Zoe weiterreiche. Ab heute traue ich niemals mehr jemandem, der mir ein Autogramm gibt!

Bald ist auch die Autogrammstunde geschafft und plötzlich merke ich, dass ich ungeheuren Durst und Hunger habe. Schnell gehe ich in den VIP-Bereich, wo ich mir – als VIP natürlich kostenfrei – ein Bier und zwei fette tschechische Bratwürste hole und einverleibe.

Finde den Wolli

Anschließend gehe ich in den VIP-Backstagebereich, und weil es dort eine Bar gibt, bestelle ich mir noch ein Gin Tonic. Ich sehe mir von dort aus das Konzert von Masterboy an und plaudere noch mit Cash und Pelvis the Palergator, die sich dort auch noch einen Drink gönnen. Dabei schenkt mir Cash seinen wie er mir verrät, liebevoll auf vergammelt präparierten Konzerthut.

Punkt 22 Uhr ist das Festival zu Ende, man befindet sich ja mitten im zentralen Villenwohngebiet. Ich spaziere also glücklich und zufrieden gemächlich zurück ins Hotel, wo sich meine Partnerin erstaunt zeigt, dass ich bereits so früh zurückkomme. „Na bitte, ich habe ja schließlich auch noch familiäre Verpflichtungen“, sage ich lächelnd, „außerdem ist einen Abend lang Spades zu sein ganz schön anstrengend!“