Sonntag, September 29, 2024
Diary

Wolli im Wunderland. Tagebuch einer Indienreise #3

Ich heiße Wolfram, aber meine Freunde nennen mich Wolli. Im Jahr 2000 reiste ich das erste Mal nach Indien. Mein treuer Reisepartner war mein bester Freund Hans. Gemeinsam entflohen wir einer tiefgreifenden Existenzkrise, die uns damals in Österreich erfasst hatte. Es war meine erste große Auslandsreise, die mich über die Grenzen Europas hinaus brachte. Als solche war der Trip für mich eine unglaubliche Horizonterweiterung und Bereicherung, der eine bis heute andauernde Liebe zu diesem Land, in dem es nichts gibt, was es nicht gibt, entfachte. Hiermit möchte ich Euch, werte LeserInnen, in Form meines Tagebuches an dieser spannenden und ereignisreichen Reise teilhaben lassen.

Teil 3: Sound Horn Please!

Wie sein Vorname verrät, stammt John aus einer christlichen Familie, und wie bei allen Glaubensrichtungen spielt in Indien auch bei den Christen die Religion eine wesentliche Rolle im täglichen Leben. Neben der interessanten Erscheinung des Marutis fiel mir vor allem seine geringe Größe auf, was unweigerlich zu der Frage führte, wie verdammt noch einmal drei Personen mit zwei riesigen Tramperrucksäcken in dieser Seifenkiste Platz haben sollten. John sah sich offensichtlich nicht mit derartigen Zweifeln konfrontiert. Fröhlich öffnete er den Kofferraum, nahm mir meinen Rucksack ab und versuchte ihn zu verstauen – was kläglich misslang. Er konnte mein prall gefülltes Gepäckstück drehen und wenden, wie er wollte, es hatte in dem an ein überdimensionales Handschuhfach erinnernden Kofferraum seines Autos einfach keinen Platz. Doch davon ließ sich John nicht entmutigen. “Don´t worry! We all go in frront. With the bags!”, verkündete er freudestrahlend.

Eine typische, ganz normale indische Straßenszene (via zug-und-eisenbahn.blogspot.co.at)
Eine typische, ganz normale indische Straßenszene (via zug-und-eisenbahn.blogspot.co.at)

Der Maruti hatte zwar fünf Türen, trotzdem war bereits das Einsteigen ein Abenteuer. Da ich die längeren Beine habe, durfte ich vorne sitzen und mein Freund Hans musste sich durch die kleine Türöffnung auf den Rücksitz zwängen. Dann nahm er unsere zwei Rucksäcke entgegen. Wie durch ein Wunder verschwanden die tatsächlich auch im Fonds des Marutis. “Hans, lebst no?”, vergewisserte ich mich sicherheitshalber nach dem Befinden meines Freundes, der nun irgendwo hinter diesen Gepäckbergen begraben war. Ein geflüstertes “Ja, grad no!” kam als nicht sonderlich beruhigende Antwort. Ich zwängte mich selbst vorne ins Auto, was sich ebenso als nicht ganz einfach herausstellte. Durch die dicken Rucksäcke im Fonds, musste ich den Sitz so weit nach vorne stellen, dass meine Knie gegen das Armaturenbrett drückten. Komfortabel war etwas anderes. Sicher auch, weswegen ich mich angurten wollte. Nach mehreren wüsten Verrenkungen bekam ich den Gurt zu fassen. “Forrget about it, it doesn´t worrk anyway. But yu don´t need it! Now yu arre in India, my friend”, desillusionierte mich Johns Stimme. “Na gut”, dachte ich, “genaugenommen kann ich, so eingeklemmt wie ich bin, niemals aus diesem Auto herausgeschleudert werden.” “Well, let´s go then!”, antwortete ich und ließ den Gurt wieder los. Unsere erste indische Reiseerfahrung begann, der noch viele weitere folgen sollten.

John steuerte den Maruti vom Parkplatz und reihte ihn in das Verkehrschaos der davor vorbeiführenden mehrspurigen Straße ein. Nach welchen Kriterien er dabei vorging und wie er wusste, wann er sich wo einreihen konnte, war mir schleierhaft. Auf der Straße herrschte dasselbe unüberschaubare Getümmel wie am Parkplatz des Flughafens mit dem Unterschied, dass sich die Fahrzeugmassen hier vollkommen unkoordiniert und nicht zu langsam herumbewegten. Wie viele Spuren die Straße hatte, war weder aufgrund einer Markierung – weil es nämlich keine gab – noch aufgrund einer in irgendeiner Weise erfolgenden Anordnung der Fahrzeuge – etwa in Fahrspuren – erkennbar. Sie war auf jeden Fall mächtig breit.

So tuckerten wir im Verkehrsfluss mit und nach den üblichen, herzlich vorgetragenen Begrüßungsworten ging John gleich in medias res und gab uns erste Lektionen für den Indienreisenden. “The beggarr beforre on the parking lot, yu rrememberr? I had to give him moni, because yu wherre with me. I can´t not give him something being with forreigners. He would not unterstand. But don´t give moni to everryboddy. They arre to many. Everryboddy will beg yu moni because yu arre rrich European.” Yu just give moni, when yu wont to give.” Wir verließen die breite Straße und bogen rechts ab in eine Straße die scheinbar zwei Fahrspuren haben sollte, wobei auch hier sämtliche Verkehrsteilnehmer wahllos herumzufahren schienen. Es herrschte ein Gewirr aus Autos, Fuhrwerken, Mopeds, Motorrädern, Fahrrädern Rickschas und Fußgängern, die sich durchaus nicht auf die Benützung des breiten, nicht asphaltierten Banketts beschränkten. Dort war auch nicht wirklich viel Platz. Neben der Straße herrschte ein chaotisches Treiben aus Fußgängern, spielenden Kindern, Rad- und Mopedfahrern, parkenden Autos, Hunden, Ziegen, Rindern und Hühnern. Dazwischen verkauften Händler an mobilen Ständen oder mit Handwägen aller Art Waren und Essen. Zu den schon bekannten Straßengerüchen drangen nun vermehrt Düfte nach exotischen Speisen und Gewürzen durch die weit geöffneten Autofenster.

Ein indischer LKW (via pagewizz.com)
Ein indischer LKW (via pagewizz.com)

John war in der Zwischenzeit mit seinen Ausführungen bei seinem Auto angekommen. “Norrmally we go my whole family in this carr: My wife, my mother, my aunt and my thrree childrren. Only my fatherr can´t come because he is in wheelchairr. He must stay at home and ourr dog is watching him.” Ich rechnete kurz nach. Sieben Personen in diesem Auto. Wie das funktionieren sollte war mir vollkommen schleierhaft. “ This carr is as big as yourr motherr´s motorbike”, sagte er mit stolzer Stimme zu Hans, der irgendwo in den Tiefen des Rücksitzes kauerte, “800 ccm! But this carr is good forr me. That bike was too strrong.” John hatte einmal Österreich besucht. Hans´ Mutter fährt eine 800er Chopper. Als John das Motorrad sah, dass gleich viel Hubraum besaß, wie sein eigenes Auto, musste er damit fahren. Glücklicherweise ließ er es bald wieder bleiben, ehe ein Unfall passieren konnte. Die Stärke der Maschine und der ungewohnte Rechtsverkehr hatten ihn offensichtlich überfordert. Als er abgestiegen war, hatte er jedoch über das ganze Gesicht ein Grinsen wie ein kleines Kind unter dem Weihnachtsbaum gehabt.

“This carr has 35 horrse powerr, much less than yourr motherr´s bike. It is an Suzuki that is built herre in India by Maruti”, ergänzte er nicht ohne Stolz.

In der Zwischenzeit war es wirklich drückend heiß und schwül geworden. Die Sonne brannte unbarmherzig auf die Erde und mein T-Shirt klebte an meinem Körper. Wir wichen einer Kuh aus, die genüsslich wiederkäuend mitten auf der Straße lag. Am Straßenrand knabberte eine Ziege ein buntes Plakat von einer Hauswand. So näherten wir uns langsam staunenden Blickes unserem ersten Ziel: Mamallapuram. Die restliche Fahrt starrten wir einfach aus dem Fenster und sogen alles, was wir vermochten, in uns auf: die Szenerie, die Farben, die alle paar Meter wechselnden Gerüche, die Geräusche, die den Weg säumenden Palmen, die Frauen in ihren bunten Saris, die Schulkinder in ihren Uniformen, den radelnden Milchmann, die Essensverkäufer, die knatternden Rikschas, einen unter seiner Ladung aus Feuerholz fast verschwindenden Esel und die vielen, alten und unglaublich bunt bemalten LKWs. “Sound Horn Please” war in großen, bunten Lettern auf ihr aller Heck geschrieben. Das schienen John und die anderen Verkehrsteilnehmer sehr wörtlich zu nehmen. Immer und überall wurde gehupt. John hupte, wenn sich der Verkehr verlangsamte. Er hupte, bevor und nachdem er abbog, er hupte anstatt zu bremsen bei jeglichem ungeahnten Hindernis, das vor uns die Straße bevölkerte. Sei es ein Handkarren, ein Fußgänger, ein spielendes Kind oder eine geruhsam vor sich hin trottende Kuh.

Trotzdem erreichten wir schließlich unser Ziel: Das Mamalla Beach Resort in Mamallapuram, das unsere erste Unterkunft im fremden Land sein sollte.

Glossar:

  • Chai Tee: üblicher weise mit Milch und sehr viel Zuker zubereitet
  • Chaiwallah: Teeverkäufer
  • Rikscha: Kleintaxi für 2 bis 3 Personen. Es gibt Rikschas, die von Hand gezogen werden, Fahrradrickschas oder dreirädrige Rickschas mit Zweitakt-Ottomotor.
  • Sari: typisches indisches Wickelgewand für Frauen
  • Tamil: offizielle Amtssprache vom südindischen Bundesstaat Tamil Nadu, dessen Hauptstadt Madras ist.

Wolli im Wunderland. Tagebuch einer Indienreise gibt es auch als PDF zu lesen.

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