Im Diskurs um die überbordende Überwachung freier Bürger durch staatliche und halbstaatliche Institutionen bzw. Konzerne kommt eine Sache meist nicht zur Sprache: Die seit eh und je gegebene Totalüberwachung durch Gott bzw. durch mannigfaltige Götter und Fetische. Ein Gedanke dieser Art dürfte wohl den Künstler dieses Graffito in der indischen Stadt Udaipur inspiriert haben. Einigermaßen groß, doch unscheinbar zwischen vor Farben schreienden Werbetafeln, eröffnet es eine interpretative Spielweise für den Vergleich von säkularer und religiöser Regierung.
Nur ein von Sicherheit verwöhnter Anarchist würde vermutlich behaupten, dass das menschliche Zusammenleben keinerlei Regulation benötigt. Dementsprechend (er)finden menschliche Gesellschaften schon immer Institutionen, denen diese Aufgabe zufällt – dies waren zumeist religiöse Vorstellungen über ein oder mehrere transzendente Wesen, die unser Handeln verfolgen und gegebenenfalls auch sanktionieren.
Mit dem Aufkommen des säkularen Staats – der Trennung von weltlicher und religiöser Regierung – ging und geht ein Bedeutungsverlust der Religion einher. Die Menschen „glauben“ weniger an übermächtige Wesen und deren vermeintliche Gebote, die ein gutes Zusammenleben verheissen. Der Staat mit seinem Rechtssystem, unterstützt durch Wissenschaft und Technik, sorgt dafür, dass uns Recht geschieht und der spirituelle Glaube wird durch den Glauben an Freiheit und an Mitbestimmung ersetzt.
Problematisch betrachtet werden kann dabei, dass sich die meisten weltlichen Staaten dabei auf das Regieren mit Verboten konzentrieren und scheinbar auf die Vermittlung von in vielen Religionen vorhandenen Verhaltensgeboten vergessen. Regeln, die jedem einzelnen Menschen vermitteln, wie man leben soll, um einem Gott zu gefallen und sich selbst und andere glücklich zu machen. Gebote, Metaphern und Geschichten, die Anleitung geben, wie man in verschiedenen Situationen moralisch einwandfrei handeln kann.
Wenn man den Menschen keine solchen Werkzeuge gibt, um zu verstehen, wieso sie daran interessiert sein sollten, ein harmonisches Zusammenleben aktiv anzustreben, dann bleibt nur die Regierung durch „Überwachen und Strafen“. Wenn Menschen nur mehr danach erzogen werden, ihr Leben darauf abzustimmen, legal zu handeln bzw. nicht dabei erwischt zu werden, wenn sie es nicht tun, oder rechtliche Grauzonen ausschlachten, dann kann gesellschaftliche Stabilität und Sicherheit auf Dauer wahrscheinlich nur durch totale Überwachung erzwungen werden. Einige Menschen in der westlichen Welt scheinen das auch zu spüren und wenden sich verstärkt Religionen hin, um Halt zu finden.
Anstatt diesen Weg zu beschreiten, sollten Staaten versuchen, ihren Bürgern zu vermitteln, dass es viele gute, rationale Gründe gibt, sich als einzelner Mensch umsichtig gegenüber seinen Mitmenschen zu verhalten. Vielleicht über Mittel wie Ethikunterricht, soziologische Grundbildung für Lehrpersonal, oder aber auch mittels Werbespots, die auf die negativen Konsequenzen manch‘ Handelns hinweisen, ohne dieses gleich unter Strafe zu stellen.
Wenn auch ein positiver Bildungsauftrag erfüllt wird, so wird der Staat nicht zur Neuauflage eines oder mehrerer rachsüchtiger Götter, sondern klärt auf.