Den Märchen der Gebrüder Grimm wird immer wieder nachgesagt sie wären zu brutal: Es kann doch nicht sein, dass die Hexe verbrannt (Hänsel und Grethel), oder der Wolf einfach ersäuft wird (Der Wolf und die sieben Geißlein). Die Originalausgaben ihrer Märchenbücher hatten jedoch noch brutalere Ausführungen zu bieten und enthielten auch einige Geschichten, die in späteren Ausgaben ausgelassen wurden, da sie wohl als zu anstößig für’s Vorlesen am Kinderbettchen eingestuft wurden.
Eines der ersten Werke der Gebrüder Grimm war eine Sammlung von Märchen, die über die Jahre zuvor aus mündlichen Überlieferungen zusammengetragen und verschriftlicht wurde. Zuerst hatte diese Sammlung eher archivarischen Charakter, wurde jedoch zum Verkaufsrenner, nachdem einige Originalversionen „entschärft“ und anstößige Märchen zensiert waren. Jacob und Wilhelm Grimm hatten den moralischen Nerv ihrer Zeit getroffen und sind vermutlich deswegen bis heute bekannt.
Am Beispiel des populären Märchens Rotkäppchen kann man jedoch zeigen, dass Volksmärchen damals auch in anderen Versionen kursierten und unterschiedliche Moralvorstellungen transportierten:
- In der Rotkäppchen-Version der Gebrüder Grimm verschlingt der Wolf die Großmutter und Rotkäppchen als Ganzes. Danach kommt der Jäger vorbei, schneidet den Wolf mit einer Schere auf und rettet beide. Rotkäppchen tötet anschließend den Wolf, indem sie ihm Steine in den Leib füllt. Die Moral von der Geschicht‘ soll sein, dass das Kindlein nicht vom Weg abkommen und nicht trödeln soll, sonst muss man am Ende vom Jäger gerettet werden. (Grimm-Version von Rotkäppchen)
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In einer über 100 Jahre älteren Version des Franzosen Charles Perrault frisst der Wolf zuerst die Großmutter, verkleidet sich, und überzeugt danach das Rotkäppchen, sich zu ihm ins Bettchen zu legen. Rotkäppchen wundert sich dann darüber, nackt im Bett mit dem Wolfe, dass die Großmutter ohne Kleider so seltsam beschaffen ist – und wird gefressen. Die Moral von der Geschicht‘ soll hier sein, dass das Kindlein nicht zu vertrauensseelig gegenüber fremden „Wölfen“ sein soll, sonst findet man sich nackt mit ihnen im Bett wieder und wird unwiederbringlich „gefressen“. (Perrault-Version von Rotkäppchen)
– - Eine weitere Version, deren Kern vermutlich auf das 16. Jahrhundert zurückgeht, berichtet darüber, dass der (Wer-)Wolf die Großmutter tötet, ihr Blut in eine Flasche füllt, und ein Stück ihres Fleisches kalt stellt. Als Rotkäppchen ankommt, wird sie vom verkleideten Wolf dazu eingeladen, das Fleisch zu essen und den „Wein“ zu trinken. Nachdem Rotkäppchen dies getan hat, wird sie vom Wolf dazu aufgefordert, sich zu ihm ins Bettchen zu legen, und ihre Kleider zu verbrennen, da sie diese später nicht mehr brauchen würde. Nachdem Rotkäppchen nackt im Bette liegt, erkennt sie die Finte des Wolfs und entkommt ihm mit der Ausrede auf den Topf zu müssen. Die Moral von der Geschicht‘ soll hier vermutlich einerseits sein, aufzupassen, von wem man eingeladen wird (und auf was), und andererseits, dass es zum Abhauen niemals zu spät ist. (Kannibalismus-Version von Rotkäppchen)
Es existieren noch viele weitere Versionen dieses Märchens, die unterschiedlichste Moralvorstellungen transportieren. Von den hier angeführten Versionen gefällt mir persönlich die Grimm-Version am wenigsten, denn die Vorstellung, dass früher oder später der Retter kommt, der alles wieder gerade biegt, führt nicht zur Erziehung von mündigen und selbstverantwortlichen Kindern. Und dass der Jäger im Märchen nicht sofort auf den Wolf schießt, hat mich als Kind schon stutzig gemacht.
Weiterführende Links
- Zensierte Märchen der Gebr. Grimm auf grimm01.de
- „Das Mädchen und der Wolf“ von Rudolf Messner auf uni-kassel.de