In vielen Regionen der Erde ist der Glaube an Magie sehr präsent und mächtig. Gesellen sich dazu noch Not und Ängste, ist das Chaos schnell perfekt. So ereignete sich in Nigeria 1990 eine zwei Wochen andauernde Epidemie, bei der Menschen wahnhaft daran glaubten, jemand hätte ihr Genital gestohlen.
Die Geschichte von gestohlenen oder verschwundenen Genitalien kursierte in Nigeria wohl schon lange Zeit, bevor es Ende Oktober 1990 zu einer Massenhysterie kam. Die „Diebstähle“ ereigneten sich für gewöhnlich in urbaner Umgebung, an überfüllten Plätzen oder Bushaltestellen. Für die „Bestohlenen“ genügte oft ein einfaches Zeichen, das dazu führte, dass der Penis (zumeist waren Männer betroffen) einfach verschwand: Ein unbeabsichtiger Rempler eines Fremden, ein Händeschütteln, ein Fragen nach der Uhrzeit, oder ein einfaches Zuwinken.
In einem Fachartikel beschreibt der Psychiater Sunny Ilechukwu den typischen Ablauf eines Genitaldiebstahls wiefolgt:
- Ein einfaches Zeichen löst die Ahnung aus, das eigene Genital sei durch böse Magie gestohlen worden
- Die meisten Betroffenen berichteten danach von einer Erfahrung, die einem Blitzschlag gleicht, begleitet von Unwohlsein und einem ziehendem Gefühl oder einer Bewegung im Hodensack
- In der kurz darauffolgenden Phase kontrollierten die Betroffenen zwanghaft, ob ihr Genital wirklich gestohlen wurde. Entweder, indem sie sich zwischen die Beine griffen oder sich gar öffentlich entkleideten
- Danach verfielen die meisten Betroffenen in Panik und begannen zu schreien.
In der Regel versammelte sich schnell eine Menschenmenge um die Opfer der Diebstähle, die mit den Händen im Schritt oder gar mit hinuntergelassener Kleidung jammerten. Die Person, die in den Augen der aufgebrachten Menge des Diebstahls schuldig war, wurde sofort aufgefordert das Genital zurückzugeben und bedroht. Konnte die Gruppe sehen, dass das Geschlechtsteil nicht wirklich fehlte, behaupteten viele der „Opfer“ zum Leidwesen der unschuldigen „Magier“, ihr „Teil“ wäre nun beträchtlich kleiner oder es handle sich lediglich um den Geist des entwendeten Schwengels. Im Glauben daran, dass je härter die Bestrafung ausfiele, desto eher würde das Genital zurückgegeben, wurden die „Täter“ durch die Menge niedergeschlagen, gelyncht bzw. verbrannt. In milderen Fällen kam es zur Auslieferung an die Polizei. Oft wurde ein tödlicher Ausgang nur abgewandt, wenn der „Täter“ von örtlicher Prominenz war, oder die Polizei früh genug intervenieren konnte.
Binnen kurzer Zeit verbreitete sich die Epidemie in städtischen Ballungszentren des ganzen Landes: Männer hielten sich zum Schutz in der Öffentlichkeit die Hände vor Genitalien, Frauen rannten mit verschränkten Armen vor der Brust durch die Stadt. Es hieß, Unachtsamkeit und ein schwacher Wille würde einen Diebstahl provozieren, und nicht selten wurden potentielle Täter mit voreiliger Aggression zur Strecke gebracht.
Es kam fast zum totalen Zusammenbruch von Recht und Ordnung in Nigeria. Der soziale Frieden konnte nur wiederhergestellt werden, indem die Polizei rigide vorging und die vermeintlichen „Opfer“ wegen Falschbeschuldigung hinter Gitter brachte. Auch die Teilnehmer von Lynchmobs wurden bestraft. Die Oberkommandur der Exekutive ließ öffentlich verkünden, dass die Vorfälle eine Machenschaft organisierter Krimineller waren, die sich durch das strategisch erzeugte Chaos an Plünderungen bereichterten, sowie gezielt „alte Rechnungen“ mit ungeliebten Personen beglichen. Viele der „Opfer“ wurden auf polizeiliche Anordnung hin von Ärzten untersucht, um die Unversehrtheit ihrer Genitalien bestätigt zu bekommen. Im Zuge dieser Maßnahmen beruhigte sich die Situation allmählich wieder.
Und die Moral von der Geschicht‘?
Viele Menschen rund um den Globus haben Probleme. Sei es nun Armut, Krankheit, oder einfach das subjektive Gefühl gegenüber anderen benachteiligt zu sein. Die Ursachen dieser Probleme sind meist vielfältig und komplex: Strukturelle Arbeitslosigkeit, Globalisierungfolgen, ungenügende Verteilungsmechanismen, etc…. Nur in den wenigsten Fällen trifft es wirklich zu, dass einzelne Menschen oder Menschengruppen die Verursacher des individuellen Elends sind.
Für die meisten Menschen ist es jedoch einfacher die „Schuld für’s Dilemma“ in einer einzelnen Ursache zu finden. In den Köpfen der Nigerianischen Bevölkerung ist der Glaube an Magie als historisches Erbe zu finden. Vermutlich konnte deswegen eine derartige Epidemie ausbrechen, die aus gesunden Menschen Gewalttäter und Lynchmörder machte. Ein Penisdiebstahl durch Magie wirkt einfach plausibel. In unseren Breiten kann der Glaube an die „völkische“ Homogenität in „unseren“ Nationalstaaten als Teil des historischen Erbes betrachtet werden. Vielleicht auch der Glaube daran, dass es „unsere ureigenste Leistung“ war, die uns im Wohlstand leben läßt.
Wenn hierzulande also gewisse machthungrige Personen und Institutionen schreien: „Der ist Schuld!“, „Die sind schuld!“, und man kann dieser Botschaft etwas abgewinnen, dann sollte man vielleicht nachsehen, ob das eigene Genital noch da ist. Ansonsten gefährdet man Sicherheit und sozialen Frieden in einem Land vermutlich mehr als die Sündenböcke, die halt gerade auserkoren wurden.
Quellen / Weiterführende Links
- The Vanishing Genitalia Epidemics auf getthebasics.wordpress.com
- SUNNY T.C. ILECHUKWU (1992): Magical Penis Loss in Nigeria: Report of a Recent Epidemic of a Koro-Like Syndrome, Transcultural Psychiatric Research Review 29, Sage Pub (PDF)
- What’s Up With Penis-Stealing Sorcerers? auf washingtoncitypaper.com
- Mass Delusions and Hysterias: Highlights from the Past Millennium auf csicop.org
Überarbeitung der FPÖ-Plakate: http://bit.ly/2iv5wcH